PL / Abtreibung: Verfassungsgerichtshof als Garant des Lebens
IEF, 12.11.2020 – Mehrfach bereits hat sich das polnische Höchstgericht seit dem Inkrafttreten der Verfassung von 1997 für den Schutz des Lebens ausgesprochen.
Proteste gegen Regierung, Kirche und das Verbot der eugenischen Abtreibung
Nach dem jüngsten Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom Oktober 2020, der die Abtreibung unheilbar kranker Föten für verfassungswidrig erklärt hatte, gingen tausende Menschen in Polen auf die Straße, um für ein Recht auf Abtreibung zu protestieren. (Das IEF hat berichtet). Die bis heute andauernden Proteste richten sich dabei auch gegen die Regierung, da sich das Gericht unter anderem auf Antrag einiger Parlamentsabgeordneter der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit dem Fall befasste. Dem Verfassungsgericht wird außerdem die Legitimität abgesprochen, da 14 der insgesamt 15 Höchstrichter auf Antrag der Regierungspartei ernannt wurden.
Was in der Berichterstattung meist unerwähnt bleibt, ist die Tatsache, dass sich das polnische Parlament seit dem Jahr 2017 mit einer von über 830.000 Menschen unterschriebenen Bürgerinitiative, die eine Einschränkung der Abtreibung auf Fälle der Gesundheits- und Lebensgefährdung der Mutter forderte, zu befassen hatte. Dabei wurde der Regierung von den Befürwortern der Initiative mehrfach vorgeworfen, die Initiative nicht umsetzen zu wollen und in Ausschüssen „stecken“ zu lassen.
Die Kritiker des nunmehrigen Urteils äußern ihren Unmut aber auch über die katholische Kirche, die ihrer Ansicht nach der Gesellschaft moralische Vorstellungen, wie jene, dass die Abtreibung ein Übel sei, aufzwingen und ungebührlichen Druck auf die Politik in dieser Angelegenheit ausüben würde.
Keine Wertung des menschlichen Lebens
Ohne hier auf die Justizreform in Polen und die fragliche Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtshofs eingehen zu wollen, sei jedoch angemerkt, dass das Urteil bezüglich der eugenischen Abtreibung mit der jahrzehntelangen Rechtsprechung des Höchstgerichts übereinstimmt, erläutert Mag. Antonia Holewik, Juristin mit polnischen Wurzeln und Mitarbeiterin des Instituts für Ehe und Familie (IEF). So hat sich der Verfassungsgerichtshof bereits 1997 in einer Auseinandersetzung mit den damals geltenden Abtreibungsbestimmungen für den umfassenden Schutz des menschlichen Lebens ab der Empfängnis an ausgesprochen.
Der Gerichtshof bekräftigte in seinem damaligen Urteil, dass der Wert des menschlichen Lebens inklusive des sich in der pränatalen Phase entwickelnden Lebens ein verfassungsrechtlich geschütztes Gut sei, dass keiner Wertung unterzogen werden dürfe. Er begründete dies u.a. damit, dass es kein ausreichend präzises und begründetes Kriterium gäbe, das eine Wertung des Lebens anhand der unterschiedlichen Entwicklungsphasen erlauben würde. Damit sei das menschliche Leben ab dem Moment seiner Entstehung verfassungsrechtlich geschützt.
Übereinstimmung mit den Menschenrechten
Das Urteil von 1997 stützt seine Argumentation auch auf Menschenrechtsabkommen, darunter die von Polen ratifizierte UN-Konvention über die Rechte des Kindes und die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Die erstere hält in ihrer Präambel fest, dass „das Kind aufgrund seiner körperlichen und geistigen Unreife vor und nach der Geburt eines besonderen Schutzes und besonderer Fürsorge, einschließlich eines angemessenen Rechtsschutzes, bedarf“. Letztere wiederum verweist auf das Verbot der Diskriminierung aufgrund von Behinderung. Und schließlich bringt das Gericht in seinem Urteil auch das Verbot einer Todesstrafe bei Schwangeren ins Treffen, das im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte enthalten ist. Dieses Verbot wurde für jene Länder vereinbart, in denen grundsätzlich noch die Todesstrafe erlaubt ist, aufgrund der besonderen Berücksichtigung des ungeborenen Kindes für schwangere Frauen aber eine Ausnahme erreicht wurde.
Leben – ein fundamentales, von der polnischen Verfassung geschütztes Gut
Im Urteil von 1997 ging das Gericht auch auf die damals zu erörternde Frage ein, ob das Recht auf Leben des Fötus dem Recht der Schwangeren, ihr Kind aufgrund belastender Lebensumstände oder einer schwierigen persönlichen Situation abtreiben zu dürfen, nachrangig sei. Ohne schwangeren Frauen ihr Recht auf Regelung der persönlichen Belange abzusprechen, stellte das Gericht dazu fest, dass die Ausübung dieses Rechts nicht so weit gehen dürfe, als dadurch in das fundamentale Gut des menschlichen Lebens eines anderen eingegriffen würde. Die persönlichen und sonstigen Umstände, die dem Wandel unterliegen, müssten daher dem Schutz des Lebens nachgestellt werden.
Mutter und Vater hätten zwar naturgemäß das individuelle Grundrecht, autonom über die eigene Fortpflanzung entscheiden zu können. Dieses Recht werde jedoch allein durch die freiwillige Entscheidung, ein Kind zu zeugen, realisiert, heißt es weiter in den Ausführungen des Urteils von 1997.
Die Relativität der Forderung nach Rechtstaatlichkeit
In einer anderen Entscheidung aus dem Jahr 2008 bekräftigte der Verfassungsgerichtshof, dass das menschliche Leben keiner Wertung in Bezug auf Alter, Gesundheitszustand, Lebensdauer oder sonst irgendein Kriterium unterliege.
Ausgehend von den genannten Entscheidungen könne man dem jüngsten Urteil zur eugenischen Abtreibung kaum die rechtliche Richtigkeit absprechen, so Holewik weiter. Es sei daher verwunderlich, dass die sonst so lauten Stimmen, die für die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit in Polen pochen, in dem Falle nicht die Umsetzung des Urteils fordern, sondern die Rechtstaatlichkeit dem Willen eines – zwar lautstarken, aber dennoch bloß – Teils der polnischen Gesellschaft opfern. Vor allem aber vermisst Holewik jene Stimmen, die sich für bessere Bedingungen für Familien mit Kindern mit Beeinträchtigung im Sinne einer echten Solidarität einsetzen würden anstatt einfach die legale Tötung von kranken Kindern zu fordern.
Einstellung zur Abtreibung nicht bloß eine Frage des Glaubens
Dass die ablehnende Haltung gegenüber der Abtreibung nicht einfach auf eine Glaubensüberzeugung zurückzuführen sei, zeigten wissenschaftliche Erkenntnisse über die vorgeburtliche Entwicklung des Menschen. Für Holewik beweise die Haltung der katholischen Kirche zur Abtreibung hier einmal mehr, dass Glaube und Vernunft sich nicht ausschließen, sondern viel mehr ergänzen würden.
Wie beispielsweise der Arzt und Medizinprofessor, Christoph von Ritter, in einem MAKA-Video mit knappen Worten erläutert, beginnt das Leben naturwissenschaftlich gesehen mit der Verschmelzung der Ei-und Samenzelle. Er führt dabei das berühmte SKIP-Argument an: „S“ steht dabei die neue individuelle Spezies Mensch, die durch die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entsteht. „K“ steht für die „Kontinuität“ der Existenz dieses Menschen von der Empfängnis bis zur Gegenwart, ohne dass nach der Fertilisation Einschnitte in der Entwicklung des Embryos beobachtet werden könnten. „I“ wiederum steht für die spezielle Identität des Embryos, die aus der Verbindung des Genoms des Vaters und der Mutter hervorgeht und „P“ für das Potenzial, sich zur Gestalt des erwachsenen Menschen zu entwickeln, ohne dass etwas Wesentliches hinzugefügt werden müsste. Weitergehende und ausführlichere Argumente für den Beginn des Lebens ab der Empfängnis liefert aber etwa auch der ehemalige Ordinarius und Direktor des Instituts für Anatomie und spezielle Embryologie an der Universität Fribourg/ Schweiz, Günter Rager, in einem Vortrag aus dem Jahr 2016 „Gibt es Grenzen in der frühen Entwicklung des Menschen?“.
Der Fortschritt der Wissenschaft bringt immer mehr Einblick in die Entwicklung des Kinds im Mutterleib. So weisen einige neuere Forschungsergebnisse darauf hin, dass ein Schmerzempfinden beim Fötus bereits ab der 12. Schwangerschaftswoche gegeben sei – und nicht, wie lange angenommen, erst ab der 24.Woche (Das IEF hat berichtet). In Bezug auf das Kontinuitätsargument wissen wir heute dank der Prä- und Perinatalpsychologie, dass auch die Zeit vor und während der Geburt Auswirkungen auf das spätere Leben eines Menschen hat. Ungeborene Kinder erleben alle emotionalen und psychischen Reaktionen der Mutter mit und die Umstände von Schwangerschaft und Geburt haben Auswirkungen auf das spätere Leben des Menschen. Dass es sich beim Ungeborenen um einen Menschen handelt, sei daher keine Frage des Glaubens, betont Holewik. Der sich daraus ableitende Rechtsschutz sollte es auch nicht sein, so die Juristin. (AH)