US / Abtreibung: „Leak-Affäre“ erschüttert US-Supreme Court
IEF, 04.05.2022 – Der Leak eines Urteilsentwurfs des amerikanischen Supreme Courts offenbart neben einer Wende im Abtreibungsrecht auch rechtsstaatliche Fragestellungen.
Einen Fall wie diesen, der den Ruf des Supreme Courts stark beschädige, habe es zuletzt 1852 am Obersten Gerichtshof in den USA gegeben, macht Rechtsprofessor Jonathan Peters von der University of Georgia aufmerksam. „Die Weitergabe eines Urteilsentwurfs ist ein schwerer Verstoß gegen die vorherrschenden Normen.“ Das dürfe einfach nicht passieren, betonte auch Dan Epps von der Washington University in St. Louis. Neben diesen besorgniserregenden Meldungen ist es aber vor allem der Inhalt des geleakten Urteilsentwurfs, der die Wogen in der Bevölkerung hochgehen lässt und bereits zu zahlreichen Demonstrationen geführt hat. Die Diskussion über Abtreibung in den USA ist erneut entfacht. Dass es sich bei dem Entwurf um ein authentisches Dokument des Supreme Courts handelt, wurde kürzlich vom Vorsitzenden des Supreme Courts bestätigt.
Mississippi-Gesetz als Anlassfall
Konkret geht es um das Abtreibungsgesetz in Mississippi mit dem Namen „Gestational Age Act“, das mit wenigen Ausnahmen Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche verbietet. In der Rechtssache Dobbs vs Jackson Women’s Health Organisation reichte die Abtreibungsorganisation Jackson Women’s Health Klage gegen das Gesetz ein und forderte eine einstweilige Verfügung. Das zuständige Bezirksgericht gab der Klage der Abtreibungsorganisation statt und untersagte die Durchsetzung des Gesetzes mit der Begründung, dass der Staat keine Beweise vorgelegt habe, dass der Fötus in der 15. Schwangerschaftswoche schon lebensfähig sei. Daraufhin ging der Staat Mississippi in Berufung, wobei das Urteil des Bezirksgerichts erneut bestätigt wurde. Schließlich landete der Fall vor dem Supreme Court, der seither in Verhandlungen ist und offenbar schon einen ersten Entwurf des Urteils ausgearbeitet hat.
Roe vs Wade vor dem Aus?
Der der Tageszeitung Politico zugespielte Entwurf zeigt eine von Höchstrichter Samuel Alito nach einer internen Abstimmung verfasste Mehrheitsmeinung, die sich gegen das Grundsatzurteil Roe vs. Wade stellt. Durch das Grundsatzurteil aus dem Jahre 1973 wurde erstmals die strafrechtliche Verfolgung von Schwangerschaftsabbrüchen in den USA verboten. Der oberste Gerichtshof urteilte, dass die Bundesstaaten für das erste Schwangerschaftstrimester keinerlei Regelungen erlassen dürften und die Entscheidung bezüglich einer Abtreibung lediglich im Ermessen der Schwangeren und deren Arztes liege. Erst für das zweite Schwangerschaftstrimester könne man Vorschriften aufstellen, die allerdings in angemessenem Zusammenhang mit der Gesundheit der Mutter zu stehen hätten. Im dritten Trimester könnten die Bundesstaaten Abtreibungen auch ganz verbieten, sofern es Ausnahmen für Notfälle gebe.
Laut dem geleakten Urteilsentwurf will die Mehrheit der Höchstrichter nun die Abtreibungsfrage in die Kompetenzen der Bundesstaaten zurücklegen und somit der Berufung des Staates Mississippi stattgeben. Das bedeute aber nicht, dass Abtreibung für verfassungswidrig erklärt würde, betonte Grégor Puppinck, Direktor des European Centre for Law and Justice (ECLJ). Die Entscheidungsgewalt würde lediglich an die Bundesstaaten zurückgegeben werden, so Puppinck. „Die Verfassung verbietet es den Bürgern der jeweiligen Bundesstaaten nicht, Abtreibungen zu regeln oder zu verbieten“, geht aus dem Urteilsentwurf hervor. Roe habe diese Autorität beansprucht. Daher wolle man dieses Urteil aufheben und die Abtreibungsfrage nun an das Volk und seine gewählten Vertreter zurückgeben, so Alito in der Mehrheitsmeinung. Das Roe vs. Wade-Urteil sei ein Fehler gewesen, denn Aufgabe des Gerichts sei es, die Verfassung anzuwenden und nicht neue Rechte und Verpflichtungen zu schaffen, die die Verfassung nicht enthalte, so der Urteilsentwurf.
Schwerer Vertrauensbruch
Kurz nach Veröffentlichung des Urteilsentwurfs kündigte der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, John Roberts, an, dem Leak nachgehen und dessen Quelle ausfindig machen zu wollen. Roberts versprach, dass der Leak die Integrität des Supreme Courts jedenfalls nicht untergraben werde. Alle Mitarbeiter des obersten Gerichts hätten die vorbildliche und wichtige Aufgabe, die Vertraulichkeit des Gerichts zu wahren. „Der Leak war ein einzigartiger und ungeheuerlicher Bruch dieses Vertrauens“, so Roberts. Der Supreme Court wies auch darauf hin, dass es sich nur um einen Entwurf handle. Bis zu einer endgültigen Entscheidung können die Richter ihre Meinung ändern und andere Entwürfe erstellen. „Es ist möglich, dass es seither einige Änderungen gegeben hat“, betonte Josh Gerstein, Reporter von Politico.
Aushebelung der Rechtsstaatlichkeit?
Wie der Autor und Rechtsanwalt Ben Shapiro auf der Nachrichtenwebseite The Daily Wire schreibt, werden nun zahlreiche Drohungen von Abtreibungsbefürwortern an die Richter des Supreme Courts erwartet. Würde das Gerichtsurteil stark von Alitos Entwurf abweichen, dann sei es klar, dass dem öffentlichen Druck nachgegeben wurde. Genau das wolle man mit dem Leak erreichen, so Shapiro. Indes wird bereits gemutmaßt, dass die Quelle des Leaks im Büro der liberalen Höchstrichterin Sonia Sotomayor liege. Das zeige nur die absolute Geringschätzung, die die Liberalen der Rechtsstaatlichkeit entgegenbringen würden, zeigt Shapiro auf. Es gelte nun, die strafrechtliche Verfolgung des Täters sicherzustellen anstatt – wie es die Medien machten – jene Person als Helden zu feiern, warnt Shapiro. Das Ausmaß des Erdbebens, das im Gericht und insbesondere zwischen dem Vertrauen von Richtern und deren Mitarbeitern ausgelöst wurde, könne man jedenfalls nicht übertreiben, postete der von angesehenen Juristen betriebene Rechtsblog SCOTUS auf Twitter. Der Leak sei das schwerste, unverzeihlichste Vergehen, so SCOTUS.
Meinungen mit Fokus auf Entwurfsinhalt
Weltweit zeigen sich Politiker und Organisationen weniger über das Leck als über den Inhalt des Entwurfs bestürzt. US-Präsident Biden erklärte, bereit zu sein, gegen das Urteil anzukämpfen, wenn eine Entscheidung ergehe. Auch die Vereinten Nationen betonten die Wichtigkeit der weiblichen Selbstbestimmung. Sexuelle und reproduktive Rechte seien die Grundlage für Wahlfreiheit, Ermächtigung und Gleichberechtigung von Frauen und Mädchen, so ein Sprecher der UNO. Die Nationalratsabgeordnete Petra Bayr von der SPÖ sprach von einer Gefahr, der Millionen von ungewünscht Schwangeren ausgesetzt seien. Man müsse sich im Klaren sein, dass die Aushöhlung sexueller und reproduktiver Rechte auch in Europa stattfinde. Bayr nimmt die Geschehnisse in den USA zum Anlass, eine Aktualisierung, Überarbeitung und Modernisierung der europäischen Abtreibungsgesetze zu fordern und die von Präsident Macron geäußerte Forderung nach Aufnahme eines Rechts auf Abtreibung in die EU-Grundrechtecharta (das IEF hat berichtet) aufzugreifen. Dass die Rechte der ungeborenen Kinder und der Angriff auf die Rechtstaatlichkeit in der Debatte um den amerikanischen Urteilsentwurf in den meisten Medien nicht einmal eine kurze Erwähnung finden, zeige wie einseitig und ideologisch die Herangehensweise an das Thema und die Berichterstattung erfolge, so Antonia Holewik, Juristin und Leiterin der Politikabteilung am Institut für Ehe und Familie (IEF). Sie wird nicht müde zu betonen, dass es international kein Recht auf Abtreibung, sondern vielmehr ein fundamentales Recht auf Leben gebe, aus dem sich alle anderen Rechte ableiten würden.
Es bleibt nun abzuwarten, wie das endgültige Urteil des Supreme Court aussehen wird. Es wird in den nächsten zwei Monaten damit gerechnet. Das IEF wird weiter berichten. (TS)