EU_DE / Erziehung: Fall Wunderlich – Totales Verbot von Homeschooling verstößt nicht gegen Recht auf Privat- und Familienleben
IEF, 16.01.2019 – Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte in erster Instanz fest, dass im Falle der Familie Wunderlich aus Deutschland auch der temporäre Sorgerechtsentzug zur Durchsetzung der Schulpflicht verhältnismäßig und gerechtfertigt war.
EGMR bejaht Spielraum für ausnahmslose Schulpflicht
Der EGMR hat bereits in mehreren vorausgehenden Fällen gegen Deutschland entschieden, dass der verpflichtende Schulbesuch keinen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) darstelle. So urteilte der Gerichtshof im Fall Konrad v. Germany im Jahre 2006, dass gemäß Artikel 8 Absatz 2 EMRK der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts auf Familienleben statthaft sei, insoweit dieser gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstelle, die in einer demokratischen Gesellschaft zur Durchsetzung des staatlichen Bildungsauftrags erforderlich sei. Auch gemäß Artikel 2 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK müsse die Pflicht des Staates, das Recht der Eltern auf Erziehung und Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen zu achten, im Lichte des Bildungsrechts des Kindes betrachtet werden, das in diesem Fall vorrangig sei. Die Gewährleistung des Rechts auf Bildung verlange eine Regulierung durch den Staat, sei es durch das Einführen einer Schulpflicht oder durch privaten Unterricht auf einem angemessenen Niveau. Auch die Ansicht, wonach die Integration in die Gesellschaft eine wichtige Aufgabe der Grundschulbildung darstelle, die durch Hausunterricht nicht gleichermaßen garantiert werden kann, sei nicht falsch und liege im Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten. Im Zusammenhang damit hat der EGMR das Argument des Bundesverfassungsgerichts – die Gemeinschaft habe ein berechtigtes Interesse daran, dass möglichst keine religiös oder weltanschaulich geprägten „Parallelgesellschaften“ entstehen – als im Einklang mit seiner eigenen ständigen Rechtsprechung erachtet.
Der Fall der Familie Wunderlich
Wie die Welt berichtet, gehe die Kultusministerkonferenz in Deutschland davon aus, dass bundesweit ca. 500 – 1000 Kinder zu Hause unterrichtet werden und das, obwohl seit 1919 alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland eine Schule besuchen müssen. In vielen Bundesländern sei die Schulpflicht auch in der Landesverfassung festgeschrieben. Die Familie Wunderlich gehört zu jener kleinen Gruppe von Homeschoolern, die beschlossen haben ihre Kinder nicht in die Schule zu schicken. Ausschlaggebend dafür seien die religiöse Überzeugung der Eltern, die Angst vor einem widerchristlichen Einfluss und die Absicht gewesen, ihren Kindern die bestmögliche freie Entfaltung zu ermöglichen.
Gegen die Eltern, die die Bildung und Erziehung ihrer vier Kinder nicht dem Staat überlassen wollten, wurden immer wieder Geldstrafen verhängt und Gerichtsurteile erlassen, bis ihnen eines Tages das teilweise Sorgerecht entzogen und die Kinder von 20 Polizisten und Mitarbeitern des Jugendamtes gewaltsam in ein Heim gebracht wurden. Nachdem das Jugendamt festgestellt hatte, dass der Wissensstand der Wunderlich-Kinder jenen von Gleichaltrigen entsprach und die Eltern schlussendlich einwilligten, ihre Kinder in die Schule zu schicken, wurden sie nach drei Wochen wieder nach Hause entlassen. Die Eltern fühlten sich durch diesen Vorfall in ihren Rechten verletzt und reichten eine Beschwerde mit Unterstützung der Nichtregierungsorganisation Alliance Defending Freedom (ADF) International beim EGMR in Straßburg ein.
Die Entscheidung des EGMR
Der EGMR hat im Jänner 2019 nun in der Sache (Wunderlich v. Germany) eine Entscheidung getroffen und führt in seinem Urteil aus, dass das Durchsetzen der Schulpflicht zur Sicherstellung der Integration von Kindern in das Gesellschaftsleben den teilweisen Entzug des Sorgerechts rechtfertige. Es liege in dem Fall daher kein Verstoß gegen Artikel 8 EMRK vor. Da die Überprüfung des Wissenstands der Kinder immer wieder von Seiten der Wunderlichs verhindert worden sei, wäre die Annahme der Behörden, die Kinder seien isoliert, hätten keinen Kontakt mit Menschen außerhalb des Familienkreises und wären möglicherweise in ihrer körperlichen Integrität gefährdet, gerechtfertigt gewesen. Der Gerichtshof stellte zudem fest, dass die Wegnahme der Kinder nicht länger als erforderlich erfolgte und im Lichte dessen, dass gelindere Maßnahmen versagt hätten, auch verhältnismäßig und angemessen war. Die Behörden hätten dabei in richtiger Weise das Interesse der Kinder und der Eltern gegeneinander abgewogen.
Der EGMR erklärte die Anträge zur Überprüfung der Vereinbarkeit der allgemeinen Schulpflicht mit den Rechten der Konvention für unzulässig und verwies auf seine bisherige Rechtsprechung (ua Konrad v. Germany).
Das Kommentar zum Urteil
In einem Kommentar zum Urteil führte ADF International aus, dass der EGMR sich in seinen Ausführungen auf das von Deutschland vorgebrachte Argument stütze, Kinder würden im Falle von Homeschooling notwendigerweise eine mangelhafte und ungenügende Bildung erfahren. Das werde vor allem darin sichtbar, dass der EGMR den Erwerb sozialer Kompetenzen, wie Toleranz, Durchsetzungsvermögen und der Fähigkeit eigene Überzeugungen gegenüber der Mehrheit zu verteidigen, sowie die Förderung von Pluralismus allein mit einem verpflichtenden Schulbesuch verbinde. Ironischer Weise vertrete der Gerichtshof damit selbst ein Gesellschaftskonzept, dass keinesfalls pluralistisch und tolerant sei. Das Argument Homeschooling durch Eltern, die das Beste für ihre Kinder wollen, würde zum Entstehen von Parallelgesellschaften führen, entbehre laut ADF jedweder Beweise und stünde im Widerspruch zur Erfahrung vieler Staaten, in denen Homeschooling erlaubt sei. Lesen Sie dazu weiter unten.
Für die Rechtsprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf sei eine strenge Schulpflicht „sogar juristisch falsch“, so die Süddeutsche Zeitung. Für die Professorin gäbe es auch andere Möglichkeiten, um die gesellschaftliche Integration von Kindern sicherzustellen. Zu denken wäre zum Beispiel an ein Nachmittagsprogramm in Sport- oder Musikvereinen.
Die Entscheidung des EGMR ist jedenfalls noch nicht rechtskräftig, da Familie Wunderlich noch das Recht zusteht, eine Überprüfung der Entscheidung durch die Große Kammer des Gerichtshofs zu beantragen.
Die Rechtslage in Europa
Wie der EGMR in seinem Urteil feststellte, gibt es in Europa keine einheitliche Regelung in Bezug auf die Ausgestaltung des Rechts auf Bildung. In manchen Ländern wie Österreich, Frankreich, Polen oder Norwegen ist Homeschooling unter Erfüllung bestimmter Auflagen erlaubt. In anderen ist das Recht auf Homeschooling sogar in der jeweiligen Verfassung verankert. Dazu gehören unter anderem Finnland, Irland und Dänemark. Einige Staaten wie Deutschland, Schweden (seit 2011) und die meisten südöstlichen europäischen Länder sehen eine strenge Schulpflicht vor.
Die Rechtslage in Österreich
In Österreich stellt sich die Rechtslage folgendermaßen dar: gemäß § 11 Schulpflichtgesetz kann die allgemeine Schulpflicht durch die Teilnahme am häuslichen Unterricht (Homeschooling) erfüllt werden, sofern der Unterricht jenem an einer Schule mindestens gleichwertig ist. Entscheiden sich die Eltern für Homeschooling, müssen sie dies dem Landesschulrat vor Beginn des Schuljahres melden. Eine Überprüfung des Bildungserfolgs erfolgt jährlich vor Schulschluss per Externistenprüfung in einer regulären Schule. (AH)