Sterbehilfe
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INT / Lebensende: „Sterbehilfe“ regeln – eine unrealistische Wunschvorstellung

IEF, 17.10.2020 – Obwohl Grenzen der „Sterbehilfe“ nicht halten und Kontrollmechanismen nicht funktionieren, wollen immer mehr Staaten Suizidbeihilfe erlauben.

Belgien hält sich nicht einmal an die eigenen Regeln

In der „Sterbehilfe“-Debatte wird von den Befürwortern immer wieder behauptet, dass Entscheidungen zum assistierten Suizid und Tötung auf Verlangen strengen Auflagen und Kontrollen unterliegen. Wie Mercatornet berichtet, sei das in der Realität jedoch oft nicht der Fall. Beispielhaft dafür wird ein beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anhängiger Fall aus Belgien analysiert.

Kein Verlass auf Kontrollmechanismen

Im belgischen Gesetz hieße es unter anderem, dass Suizidbeihilfe und Tötung auf Verlangen nur in solchen Fällen zur Anwendung kommen dürften, wenn das unerträgliche Leiden auf keinem anderen Weg abgewendet werden könne. Wie der Autor des Artikels, Robert Clarke, der den Sohn einer „Sterbehilfe“-Patientin vor dem EGMR vertritt, feststellt, hätten die Ärzte im Fall der Mutter seines Mandanten gewusst, dass sie auch wegen der Distanz zur Familie an Depressionen leide. Als die Frau nicht gewillt war, die Familie zu kontaktieren, hätten die Ärzte rasch konstatiert, dass ihr Leiden nicht behandelbar sei. Mit dieser Argumentation könne freilich, soClarke, fast alles als unheilbar betrachtet werden.

Zwei „unabhängige“ Ärzte aus derselben „Sterbehilfe“-Organisation

Eine weitere Schutzmaßnahme sehe vor, dass „Sterbehilfe“ von zwei Ärzten unabhängig voneinander bewilligt werden müsse. In dem vor dem EGMR anhängigen Fall, wäre der Sterbewunsch der Patientin jedoch von zwei Ärzten, die Mitglied derselben Sterbehilfe-Organisation sind, genehmigt worden. Außerdem soll die Mutter seines Mandanten in den Wochen vor ihrem Ableben eine Zahlung in Höhe von 2.500 Euro an die „Sterbehilfe“-Organisation getätigt haben, so Clarke, der das Vorgehen kaum als unabhängig und uneigennützig bezeichnen würde.

Als dritten Punkt führt Clarke die Probleme der unabhängigen „Sterbehilfe“-Kontrollkommissionen an. In dem von ihm vertretenen Fall sei der Kommission nicht aufgefallen, dass das vom Arzt von Gesetzes wegen innerhalb von vier Tagen der Regierung zu übermittelnde „Sterbehilfe“-Formular erst zwei Monate später abgeschickt wurde. Der Jurist weist in dem Zusammenhang auch daraufhin, dass die meisten Kommissionsmitglieder Ärzte sind, die entweder „Sterbehilfe“ befürworten oder sie gar selbst praktizieren. Die Kommission, die bis dato ca. 12.000 „Sterbehilfe“-Fälle überprüft hat, wird außerdem von einem „Sterbehilfe“-Aktivisten geleitet, der im gegenständlichen Fall der depressiven Frau „zum früheren Ableben verholfen hat“. Unter diesen Umständen sei es für denRechtsanwalt nicht verwunderlich, dass in all den Jahren lediglich ein „Sterbehilfe“-Fall zur Anzeige gelangt sei.

Was Europa von den Niederlanden lernen kann

Über die negativen Implikationen einer Legalisierung von assistiertem Suizid und Tötung auf Verlangen sprach auch Theo Boer, Ethiker und ehemaliges Mitglied einer „Sterbehilfe“-Kontrollkommission aus den Niederlanden, bei den Bioethik Dialogen „Modernes Sterben“, die heuer von 9. bis 10. Oktober in Salzburg stattfanden. Boer war ursprünglich stolz auf das niederländische Kontrollsystem, dass sowohl vor wie auch nach Inanspruchnahme der „Sterbehilfe“ eine Prüfung der Anträge vorsehe. Auffallend sei allerdings, dass in 18 Jahre (konkret von 2001 bis 2019) von 60.000 geprüften Fällen lediglich 120 abgewiesen wurden und bei der Nachkontrolle nur ein Fall zu Anzeige gebracht wurde, der dann im Freispruch endete.

Angebot schafft Nachfrage

Der Ethiker entkräftete auch das Argument, wonach „Sterbehilfe“ die Suizidzahlen senken würde. Faktisch sei es so, dass während sich in den Nachbarländern die Suizidzahlen tatsächlich verringerten, die Niederlande in den Jahren 2007 bis 2019 einen  Anstieg von 162 % an Fällen von assistiertem Suizid und Tötung auf Verlangen und 35 % mehr Suizide verzeichnet hätten. Hinsichtlich der „Sterbehilfe“-Motive beobachtet Boer auch eine Verschiebung von terminalen Krankheiten hin zu psychischen Krankheiten, Demenz und Behinderung, darunter auch Blindheit und Autismus.  Schmerzen seien längst nicht mehr das Hauptmotiv. An erster Stelle stünde hingegen die Angst vor Kontroll- und Bedeutungsverlust.

Eine medizinische Antwort auf das Problem des Verlusts von Sinn und Kontrolle

Damit suche man aber eine medizinische Antwort auf nicht-medizinische Probleme. Da die Palliativmedizin in den meisten Fällen Schmerzen aushaltbar machen kann, würde verstärkt die Todesspritze als ärztliche Leistung gefordert, um auf individuell empfundenen Sinnverlust zu reagieren. Diese Verlagerung führe jedoch zu einem Wandel unter der Ärzteschaft, beobachtet der Ethiker. Mediziner würden immer zögerlicher selbst eine Tötung auf Verlangen durchführen, stattdessen verwiesen sie ihre Patienten an spezialisierte „Sterbehilfe“-Zentren. Außerdem würden Ärzte immer mehr Druck von Patienten und Angehörigen zu spüren bekommen. Dabei unterschätze die Öffentlichkeit den emotionalen Stress, den eine Tötung auf Verlangen bei Ärzten auslöse.

Slippery Slope: nicht Angstmacherei sondern harte Fakten

In seinem Vortrag unterlegte Boer zudem das Slippery Slope-Argument mit harten Fakten und wies dabei u. a. auf die Entscheidung eines kanadischen Gerichts, das die Beschränkung der „Sterbehilfe“ auf terminal Kranke als diskriminierend aufhob. In Oregon sei erst letztes Jahr die 15-tägige Wartefrist zwischen Antrag und Durchführung des assistierten Suizids abgeschafft worden und in den Niederlanden werde das „Vollendete Leben“-Gesetz, das älteren Menschen „Sterbehilfe“ auch ohne eine medizinische Indikation gewähren würde, diskutiert. (Das IEF hat berichtet)

Tötung auf Verlangen für unter 12-jährige Kinder

Die neueste Grenzüberschreitung betrifft auch die Niederlande. Dort hat sich die Regierung nach einem monatelangen Streit darauf geeinigt, „Sterbehilfe“ auf sterbenskranke Kinder unter zwölf Jahren auszuweiten. Das Vorhaben bedürfe keiner gesonderten Gesetzesänderung, heißt es dazu in der Wiener Zeitung. Es bedürfe, nach den Worten des niederländischen Gesundheitsminister Hugo de Jonge, lediglich einer Ausnahme von der Strafverfolgung jener Ärzte, die „Sterbehilfe“ bei Unterzwölfjährigen leisten.

Betreffen würde die Neuregelung ca. fünf bis zehn Kinder pro Jahr. Sie wäre eine Antwort darauf, dass es “unter Eltern wie Ärzten das Bedürfnis nach der aktiven Beendigung des Lebens von unheilbar kranken Kindern gibt, die hoffnungslos und unerträglich leiden und in der absehbaren Zukunft sterben werden”, so de Jonge.

In Spanien soll Tötung auf Verlangen als natürliche Todesursache gelten

Trotz der vielen Warnsignale will man international scheinbar keine Lehre aus den Erfahrungen ziehen. So soll in Spanien das Verbot der „Sterbehilfe“ aufgehoben werden. Wie die Tagespost berichtet, würde der Verabschiedung des Gesetzes nichts mehr im Wege stehen, zumal dieses im Wege eines einfachen Gesetzes im Express-Verfahren verabschiedet werden soll. Damit müsse weder die Bioethikkommission noch der für die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit zuständige Staatsrat eingeschaltet werden.

Mit dem Gesetz soll ein individuelles Recht auf „Sterbehilfe“ geschaffen werden, für Fälle in denen aufgrund einer unheilbaren Krankheit oder eines unheilbaren Zustands, eine Person das Leiden als unzumutbar empfindet und dieses durch andere Mittel nicht gemildert werden könne. Dabei soll assistierter Suizid und Tötung auf Verlangen bemerkenswerterweise als natürliche Todesursache dokumentiert werden.

Spanien setzt diesen Schritt just in einer Zeit, in der durch die Corona-Pandemie gerade alte und kranke Menschen überproportional schwer von der Corona-Krise betroffen sind. Spanien hat eine der höchsten Corona-bedingten Sterberaten in Europa seit dem Ausbruch der Pandemie.

Irland diskutiert neues „Sterbehilfe“-Gesetz

Auch in Irland wurde am 3. Oktober ein Gesetzesentwurf im Dail, dem irischen Parlament, diskutiert. Das Iona Institute kritisiert dabei jedoch eine große Einseitigkeit, etwa bei der Wahl der Redner. So sollen Befürworter des Gesetzes die Möglichkeit gehabt haben, 70 min lang für den Gesetzesvorschlag zu werben, während lediglich ein Kritiker zu Wort kommen durfte,  und das nur 4 Minuten lang.

In einer weiteren Parlamentssitzung wurde laut Indipendent.ie der Entwurf der „Dying with Dignity Bill 2020“ zur Überraschung vieler mit 81 zu 71 Stimmen einem parlamentarischen Komitee zugewiesen, was den Verabschiedungsprozess deutlich beschleunigen könnte. Zur Debatte stand auch die Zuweisung des Gesetzes an ein Spezialkomitee, das die Ergebnisse seiner Arbeit spätestens in einem Jahr präsentiert hätte. Nachdem sich die Mehrzahl der Abgeordneten dagegen entschied, muss mit einer  Änderung der Gesetzeslag in Bezug auf assistierten Suizid auch in Irland gerechnet werden. (AH)

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