CA / Lebensende: „Sterbehilfe“ als Ausweg aus Einsamkeit und der Angst, zur Last zu fallen
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IEF, 07.09.2020 – Erster offizieller „Sterbehilfe“-Jahresbericht aus Kanada für 2019 liegt vor: Zahlen, Motive und Entwicklungen.
„Sterbehilfe“-Zahlen steigen von Jahr zu Jahr
Laut dem im Juli 2020 veröffentlichten Bericht hat sich die Inanspruchnahme der Beihilfe zum Suizid und Tötung auf Verlangen seit der Einführung der MAID (Medically Assisted Aid in Dying) in Kanada im Jahr 2016 verfünffacht. Wurde MAID 2016 von 1.015 Personen in Anspruch genommen, waren es 2019 bereits 5.631. Insgesamt gehen 2% aller Todesfälle in dem fast 38 Mio. Einwohner zählenden Land auf „Sterbehilfe“ zurück.
„Sinnloses Leben“ als Hauptursache
Wie im Jahresbericht festgehalten, waren die am häufigsten angegebenen Gründe für ein frühzeitiges Ableben, die Unfähigkeit an sinnvollen Lebensaktivitäten (82,1 %) teilzunehmen und Aktivitäten des täglichen Lebens (78,1 %) auszuführen. Jeweils 53 % der Befragten gaben als Grund ihr unerträgliches Leiden, die Angst vor Schmerzen und den Verlust an Würde an. Besonders bedenklich ist, dass über ein Drittel der Kanadier sich als „Last“ für Familie, Angehörige und Pflegende empfanden und für 13,7 % der Befragten Einsamkeit und Isolation ausschlaggebend für die Inanspruchnahme von MAID waren.
Obwohl Krebspatienten zu der Patientengruppe gehörten, die am häufigsten (67,2 %) auf „Sterbehilfe“ zurückgriffen, waren lediglich 1,7 % der Ärzte, die MAID durchführen, Spezialisten auf dem Gebiet. Am häufigsten wurde „Sterbehilfe“ von Hausärzten geleistet (65%). Wie Mercatornet in einem Artikel berichtet, scheint sich unter den Ärzten auch eine „Sterbehilfe“-Spezialisierung herauszubilden, zumal eine kleine Gruppe von Medizinern (126) sehr häufig (10 mal oder mehr) MAID geleistet hat.
Eine freie Entscheidung zur „Sterbehilfe“?
In dem kanadischen Bericht heißt es außerdem, dass in beinahe allen Fällen (99,1 %) die Freiwilligkeit des Sterbewunsches in direkter Absprache mit dem Patienten überprüft wurde. Im Umkehrschluss heißt dies jedoch, dass in 0,9 %, also insgesamt 46 Fällen, die Vorgehensweise nicht direkt mit dem Sterbewilligen abgesprochen wurde.
Fragen bezüglich der Entscheidungsfähigkeit der Patienten werfen auch Informationen auf, wonach 34 % oder 1.578 Personen weniger als 10 Tage nach einer MAID-Beantragung bereits „Sterbehilfe“ erhielten. Diese kurze Bedenkzeit ist per Gesetz nur in jenen Fällen vorgesehen, in denen der Todeseintritt oder der Verlust der Entscheidungsfähigkeit innerhalb von 10 Tagen zu erwarten ist. Bei 909 Patienten wurde letzteres als Grund für die Eile angegeben, was laut Mercatornet äußerst bedenklich ist, zumal keine Sicherheit besteht, dass jemand, der an der Schwelle des Verlustes der Entscheidungsfähigkeit ist, eine „freie und bewusste“ Entscheidung überhaupt treffen kann.
Letzter Ausweg oder eine billigere Lösung
91 Personen, die sich letztlich für „Sterbehilfe“ entschieden haben, hätten eine palliative Betreuung benötigt, die ihnen nicht gewährt wurde und in mindestens 87 MAID-Fällen, wurden behinderten Antragstellern keine Unterstützungsleistungen zur Verfügung gestellt. Bei jenen die Unterstützung erhielten, könne von der Leistung allein nicht auf deren Angemessenheit geschlossen werden, heißt es weiter in dem Jahresbericht. Dass eine fehlende oder mangelhafte Unterstützung die Menschen in den assistierten Suizid drängen kann, zeigt unter anderem der Fall von Roger Foley:
Dem an einer degenerativen Gehirnerkrankung leidenden 44-jährigen Kanadier, der sich eine Hausbetreuung gewünscht hat, soll diese nach eigenen Angaben verweigert und stattdessen „assistierter Suizid“ angeboten worden sein. Wie CTV News berichtete, hat der Mann einige Gespräche mit dem Personal des Krankenhauses, in dem er untergebracht war, aufgezeichnet. Darin wird ihm gesagt, dass er mehr als $ 1.500 pro Tag zahlen müsse, wolle er weiter im Krankenhaus bleiben, ihm jedoch auch MAID zur Verfügung stünde. Roger Foley möchte jedoch leben und hat eine Klage eingebracht in der er auch die Verfassungsmäßigkeit des MAID-Gesetzes in Zweifel zieht, da es Ärzte nicht dazu verpflichtet, den Versuch zu unternehmen, das „unerträgliche Leiden“ des Patienten zu lindern, bevor ihm „Sterbehilfe“ überhaupt angeboten wird.
Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und Patienten leidet
IMABE weist im Zusammenhang mit dem Jahresbericht aus Kanada auch auf einen im April 2020 in der offiziellen Fachzeitschrift der World Medical Association veröffentlichten Artikel hin. Darin wird unter anderem auf das schwierige Verhältnis zwischen dem Heilungsauftrag der Ärzte und dem Angebot an „Sterbehilfe“ hingewiesen. Menschen in palliativer Betreuung würden immer wieder den Wunsch äußern, „dass endlich alles vorbei wäre“. Die Palliativmedizin sehe darin aber einen Ausdruck von Trauer, Verlust und dem Gewahrwerden der eigenen Sterblichkeit, dem man mit Gesprächen, Trost und Zuwendung begegnen sollte. Viele im Palliativ- und Hospizbereich tätigen Personen hätten sich daher gegen die Einführung der „Sterbehilfe“ in Kanada gewehrt, würden jedoch unter der Androhung der Kürzung öffentlicher Gelder zum Mitmachen gezwungen.
Immer neue Gründe für „Sterbehilfe“
Dass „Sterbehilfe“ einmal eingeführt, auf immer mehr Fälle und Menschen ausgedehnt wird, bestätigt auch die Entwicklung in Kanada. Dort wird gerade ein Gesetzesentwurf (Bill-C-7) im Parlament diskutiert, mit dem MAID auch psychisch und chronisch Kranken sowie Minderjährigen und Kindern zugänglich gemacht werden soll. Außerdem sieht das Gesetz die Möglichkeit von ärztlich assistierten Suizid nach einer Wartezeit von 90 Tagen für Menschen mit einer ernsten und unheilbaren Krankheit vor, deren natürlicher Tod jedoch nicht in absehbarer Zeit bevorsteht. (AH)