RU / Abtreibung: Schadenersatz aufgrund erzwungener Abtreibung
IEF, 18.10.2022 – Eine Russin hat vom EGMR Schadenersatz zugesprochen bekommen, nachdem sie von ihren Eltern zur Vornahme einer Abtreibung gezwungen wurde.
Die junge Frau habe durch den unfreiwilligen Schwangerschaftsabbruch eine „unmenschliche und herabwürdigende Behandlung“ erfahren. Der Verlust des Kindes sei überdies als „schwere unmittelbare Schädigung ihrer Gesundheit“ zu werten, verkündete der Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in seinem kürzlich veröffentlichten Urteil. Er sprach der Frau Schadenersatz in der Höhe von 19.500 Euro zu.
Abtreibung aus Angst ums eigene Leben
Die damals 20-jährige Studentin erfuhr während einer Routineuntersuchung von ihrer Schwangerschaft, wie aus der Sachverhaltsdarstellung des EGMR hervorgeht. Nachdem der Kindesvater Tage vorher wegen des Verdachts der Begehung eines Gewaltverbrechens festgenommen wurde, bestanden die Eltern der Russin darauf, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Wie die junge Frau berichtete, wurde sie von ihrem Vater geschlagen und trotz vehementer Versuche, sich zur Wehr zu setzen, ins Auto gesteckt und zu einer Klinik gebracht. Dort stellte sie klar, dass sie das Kind behalten wolle und die Ärzte die Eltern doch im falschen Glauben lassen sollten, dass die junge Frau eine Abtreibung vorgenommen habe. Die Ärzte weigerten sich aber, ihrer Bitte nachzukommen. Nach weiteren Versuchen, sich einem Schwangerschaftsabbruch zu entziehen, drohte der Vater der damaligen Studentin schließlich damit, sie und ihre Mutter umzubringen, sollte sie sich nicht für eine Abtreibung entscheiden. Aus Angst um ihr Leben ließ die Russin schließlich den Schwangerschaftsabbruch vornehmen.
Fehlgeburten, Unfruchtbarkeit und psychische Probleme
Aus der medizinischen Akte der Frau geht hervor, dass diese nach der erzwungenen Abtreibung zwei Fehlgeburten hatte und schließlich Unfruchtbarkeit diagnostiziert wurde. Außerdem litt sie unter posttraumatischen Störungen. Ein ärztliches Gutachten ergab, dass die Fehlgeburten möglicherweise durch die erzwungene Abtreibung ausgelöst wurden und dass eine Abtreibung ohne die Zustimmung des Patienten als ernsthafte Gesundheitsschädigung zu klassifizieren sei. Die Frau erhob Klage gegen das Krankenhaus und die eigenen Eltern und brachte einen Verstoß gegen das Verbot unmenschlicher Behandlung (Art 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)) und ihr Recht auf Privatsphäre, insbesondere ihr Recht, Mutter zu werden (Art 8 EMRK), vor. In einer dem EGMR vorangegangenen Zivilrechtsklage wurden der Frau bereits umgerechnet 500 Euro Schadenersatz zugesprochen, wobei vom zuständigen russischen Gericht keinerlei ernsthafte gesundheitliche Beeinträchtigungen und „keine böse Absicht“ im Handeln der Eltern festgestellt wurden.
Obwohl Russland seit dem 16. September nicht mehr Vertragspartei der EMRK ist, kann der EGMR dennoch weiterhin über Beschwerden entscheiden, die Sachverhalte vor diesem Datum betreffen.
Druck als häufige Ursache für Abtreibungen
Dass Frauen von ihrem Umfeld zu einer Abtreibung gezwungen oder subtiler unter Druck gesetzt werden, ist kein Einzelfall, wie etwa eine deutsche Studie über die Gründe für Schwangerschaftskonflikte zeigt. Dort stellte sich heraus, dass der Hauptgrund für einen Schwangerschaftskonflikt die Ablehnung der Schwangerschaft durch den Kindesvater ist, wobei es auch zur Nötigung zu einem Schwangerschaftsabbruch kommen kann. In der Studie wurden anonymisierte Protokolle, die von der Telefon- und Onlineberatungsstelle Vita-L erhoben wurden, untersucht. Häufig wurden Druck durch die Familie, durch das Umfeld und allem voran Druck durch den Kindesvater als Konfliktgründe angegeben. Die Studie zeigt auf, dass über 30 Prozent aller Hauptgründe für Schwangerschaftskonflikte aus dem Einfluss Dritter resultieren. Im Gegensatz dazu nannte ein relativ geringer Anteil der Frauen materielle Sorgen und medizinische Gründe als Auslöser für eine Abtreibung. Das Argument, dass Abtreibung vor allem eine selbstbestimmte Entscheidung von Frauen sei, relativiere sich dadurch, stellten die Autoren der Studie fest. Die Medizinethiker der Universität Heidelberg plädieren daher für eine umfassende Ursachen- und Motivforschung von konflikthaft erlebten Schwangerschaften, um betroffenen Frauen eine bessere Unterstützung gewährleisten zu können. Auch in Österreich besteht diese Forderung seit längerem. Unter anderem setzt sich die Bürgerinitiative #fairändern für eine offizielle Statistik und anonyme Motivforschung zu Schwangerschaftsabbrüchen in Österreich ein. Auch Vertreter der ÖVP unterstützen diese Forderung. Zu einer Umsetzung ist es bislang nicht gekommen. So tappt Österreich die Zahlen und Motive von Schwangerschaftsabbrüchen betreffend weiterhin im Dunkeln. (TS)