DE / Lebensende: Ringen um Neuregelung der Suizidassistenz
IEF, 11.11.2020 – Der deutsche Gesetzgeber steht weiterhin vor der Herausforderung, das „Sterbehilfe“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts gesetzlich umzusetzen.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hob im Februar 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidassistenz auf und stellte fest, dass jeder Mensch sich im Rahmen seines Selbstbestimmungsrechts mit der freiwilligen Hilfe eines Dritten das Leben nehmen dürfe. Das Gericht gestand dem Gesetzgeber jedoch einen gewissen Spielraum bei der gesetzlichen Neuregelung zu. Fragen stellen sich jetzt vor allem im Bereich der Suizidprävention und Beratung, bei der Definition der „Freiverantwortlichkeit“ in Bezug auf Suizid und im Bereich der Werbung von „Sterbehilfevereinen“.
Regierung: „Vertiefte Diskussionen für legislatives Schutzkonzept nötig“
Auf Anfrage der FDP im Sommer 2020 zur Umsetzung des Urteils gab die Bundesregierung bekannt, dass eine mögliche Neuregelung der Suizidbeihilfe einen „grundrechtssensiblen Bereich“ betreffe. Die Entwicklung eines legislativen Schutzkonzeptes bedürfe daher einer sorgfältigen Prüfung aller vom BVerfG aufgezeigten Anforderungen. Hierzu seien vertiefte Diskussionen im Parlament und innerhalb der Bundesregierung nötig. Das Bundesgesundheitsministerium habe für einen breiten Austausch über eine eventuelle Neuregelung Erfahrungen von verschiedenen Fachgesellschaften, Verbänden, Kirchen und Sachverständigen der Palliativmedizin, Ethik, Suizidprävention und Rechtswissenschaften eingeholt. Das Institut für Ehe und Familie (IEF) berichtete bereits über die Stellungnahmen der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche Deutschlands. Nachdem im August schon mehr als 50 Stellungnahmen eingereicht worden waren und bis jetzt immer wieder Stellungnahmen eingereicht werden, wird der Prozess der Sichtung wohl noch längere Zeit beanspruchen.
Ethikrat tagt öffentlich zum Thema
Der Deutsche Ethikrat hielt etwa zum Thema „Recht auf Selbsttötung?“ am 22.10.2020 eine öffentliche Plenarsitzung ab, die mit Zoom übertragen wurde und re-live nachgehört werden kann. Wie die Ethikratsvorsitzende Alena Buyx betonte, wolle man durch die zeitlich frühe Hereinnahme der Öffentlichkeit dem Auftrag gerecht werden, zu informieren und die öffentliche Debatte zu fördern. Ausgehend von den unterschiedlichen Deutungen zentraler Begriffe wie Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung, sollte diskutiert werden, unter welchen Voraussetzungen ein Suizid (normativ) als freiverantwortlich anzusehen sei und wie dies „operationalisiert“ werden könne. Im Fokus standen die Frage nach der Entscheidungsfähigkeit des Suizidwilligen und deren Beständigkeit sowie der Einfluss sozialer Faktoren. Hierzu gaben Ratsmitglieder verschiedener Disziplinen kurze Referate, in einem zweiten Teil konnte das Publikum per Mail Fragen an die Experten stellen. Eine weitere Hybrid-Veranstaltung zum Thema „Phämenologie der Sterbe- und Selbsttötungswünsche“ soll im Dezember stattfinden. Hier werde der Ethikrat insbesondere Aspekte der Suizidalität im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen und im Kontext palliativer Versorgung sowie bei Kindern und Jugendlichen in den Blick nehmen als auch die Möglichkeit einer Selbsttötung als Form der Lebensbilanzierung diskutieren.
Eindringliche Stellungnahme des Nationalen Suizidprogramms
Das Nationale Suizidprogramm (NaSPro) wandte sich im September mit einer 9-seitigen eindringlichen Stellungnahme an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Das NaSPro Deutschland ist ein Netzwerk aus mehr als 90 Institutionen, Organisationen und Verbänden. Ziel ist die gesamtgesellschaftliche Aktivierung auf dem Gebiet der Suizidprävention. Die Experten warnen in der Stellungnahme vor einem neuen Typus von Suizidwilligen durch das künftige Angebot von assistiertem Suizid, wodurch zusätzliche Tote zu den bereits zu verzeichnenden Suiziden hinzukommen könnten. NaSPro empfiehlt daher, Werbung für assistierten Suizid jedenfalls strikt zu regulieren oder am besten ganz zu verbieten. Die Experten betonen darüber hinaus, dass bisher nicht geklärt sei, was genau „Freiverantwortlichkeit“ in der Entscheidung zum Suizid bedeute und inwieweit Menschen sich bei derartig existentiellen Fragen überhaupt frei, autonom und unabhängig entscheiden können. „Ein nachhaltiger Grundirrtum über Suizidalität ist, dass jene, die Suizidwünsche äußern, auch unbedingt die Intention haben zu sterben. Vielmehr wollen sie unter den gegebenen – oder von ihnen so erlebten – Umständen nicht mehr weiterleben. Insofern drückt der Suizidwunsch zunächst eine Intention nach Veränderung aus“, betont die NaSPro. Außerdem sei Suizidalität kein über die Zeit beständiges Phänomen: „Von allen Personen, die einen Suizidversuch überlebten, unternehmen mindestens 70% keinen weiteren Suizidversuch. Nur 10% der Menschen nach einem Suizidversuch versterben in den folgenden Jahren durch Suizid.“ Es sei unbedingt notwendig, dass das Gesundheitssystem durch die Bereitstellung flächendeckender Angebote in Psychiatrie, Geriatrie, Psychotherapie etc. seine besondere Verantwortung im Rahmen der Suizidprävention übernehme, plädieren die Fachleute. Dazu sollten weitere spezialisierte Behandlungsangebote wie medizinische Hilfen, Schmerztherapie, Palliativ- und Hospizarbeit ausgebaut werden.
Ärztebund möchte Berufsordnung ändern
Auch die Ärztekammer ist vom Urteil direkt betroffen. „Die Berufsordnung kann so nicht bleiben“, sagte der Präsident der deutschen Bundesärztekammer Klaus Reinhardt Medienberichten zufolge. Die Ärztekammer könne nach dem Urteil keine Norm aufrechterhalten, die dem Arzt jede Form von Suizidassistenz untersage. Reinhardt selbst halte „Sterbehilfe“ nicht für eine ärztliche Tätigkeit. Dennoch könne es Einzelfälle geben, „in denen es für einen Arzt gerechtfertigt erscheinen kann, einem Patienten beizustehen“, äußerte sichReinhardt kryptisch. Über eine Änderung der Musterberufsordnung solle beim nächsten Ärztetag im Mai 2021 abgestimmt werden. Darin heißt es derzeit: „Ärzte dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“ Denkbar sei, dass der Satz ersatzlos gestrichen werde.
Attacke auf Kern des ärztlichen Handelns
Dieses Vorhaben der Bundesärztekammer ist unter der Ärzteschaft allerdings umstritten. In einem kürzlich erschienen Gastkommentar als Reaktion auf das Vorhaben, die ärztliche Berufsordnung zu ändern, kritisiert die Ärztin Dr. Susanne Ley das „erschreckende Urteil“ zum assistierten Suizid als Attacke „auf den Kern des ärztlichen Handelns mit seinem Grundsatz nihil nocere (Anm. d. R.: dem Patienten nicht zu schaden)“ und als tiefen Eingriff „in elementare Grundlagen unseres menschlichen Zusammenlebens“. „Die Frage nach der Verfassungskonformität unserer Berufsordnungen, die uns – unserem Selbstverständnis entsprechend – die Beihilfe zur Selbsttötung verbieten, haben die Richter offengelassen“, so Leys Vorwurf. Der Suizidwunsch müsse als Symptom menschlicher Not, der fast immer vorübergehender Natur sei, erkannt werden. Werde der Suizidwunsch jedoch als Ausdruck von Selbstbestimmung gewertet, werde der verzweifelte Suizidgefährdete in seiner Not alleine gelassen. „Aufgabe des Arztes ist es, dem suizidalen Menschen einen Ausweg aus der vermeintlichen Hoffnungslosigkeit aufzuzeigen, mit ihm neue Perspektiven im Umgang mit seiner schwierigen Situation zu entwickeln oder die schwierige Situation mit ihm auszuhalten“, ist die Ärztin überzeugt. (TSG)