Ich entscheide mich dafür, der sichere Hafen zu sein

„Mein Schatz, heute ist der Geburtstag von Onkel S.“, sagte ich vor ein paar Tagen zu meinem dreijährigen Sohn. „Juhuuu, und wie feiern wir? Wer ist da alles eingeladen? Welche Torte wird es geben?“, erwiderte mein Sohn. Je mehr Fragen wir von unserem Zwerg bekamen, desto mehr stieg in mir das Gefühl der Wehmut und Ohnmacht hoch. Mir war klar, dass wir diese Feier in diesem Moment, in dieser neuen Form des Alltags, nicht feiern werden. Und auch vor einigen Tagen war unser kleiner Mann der festen Überzeugung, dass je mehr, je länger, je lauter, je schriller er um seine Oma weinen würde, desto größer wäre die Chance, dass wir zu ihr zu Besuch fahren würden. Er hatte solch eine Sehnsucht nach ihr, er vermisste sie wahrlich und das brachte er auch zum Ausdruck.

„Mutterschaft und Vaterschaft – eine Entscheidung“ 
Als Mutter und Vater habe ich nun die Wahl, wie ich mit dieser neuen, außergewöhnlichen Situation umgehen möchte. Für mich bedeutet Familie, ein Team zu sein, zusammenzuhalten, und das Wohl und die Bedürfnisse von allen Familienmitgliedern zu berücksichtigen. So oft höre ich, dass man Kinder mit gewissen Themen nicht belasten sollte, da sie es ohnehin nicht verstehen würden. Meines Erachtens ist dies ein fatales Denken. Kinder sind feinfühlig. Sie spüren, fühlen und erahnen so viele Dinge. Sich gegenüber dem Kind ehrlich zu verhalten ist meiner Meinung nach das Angebrachteste. Und so erklärte ich ihm ehrlich, dass aufgrund des Virus[1] eine Geburtstagsparty bei  seinem Onkel und ein Besuch bei der Oma nicht möglich sind.

„Wir waren uns alle örtlich gesehen so fern und doch so nah“
Das Interessante an dieser Krise ist nun, wie kreativ oder wie offen für Neues Menschen werden können. Es klingt fast paradox, dass so viele neue Dinge in den eigenen vier Wänden stattfinden können. Und so geschah es, dass an diesem Tag alle Familienmitglieder per Videokonferenz auf einem Bildschirm zusammen meinen Bruder hochleben ließen. Wir waren uns dabei alle örtlich gesehen so fern – und doch so nah. Auch für die Beziehung zu seiner Oma, die von ihm Mimi genannt wird, wurde eine Lösung gefunden. Sie erzählt ihm nun per Videotelefonie jeden Tag Geschichten. In dieser Krise wundere ich mich oft, was dabei alles möglich wird. Ich möchte nicht sagen, dass mich dabei nie Ängste oder Unsicherheiten überkommen. Doch ich weiß, dass ich als Mensch jedes Mal aufs Neue die Wahl habe. Und jedes Mal, egal, welche Herausforderung sich auch stellt, ob groß oder klein, entscheide ich mich dafür, für mein Kind, für mein kleines Wunder und Geschenk, der sichere Hafen zu sein.

„Der sichere Hafen“
Ein sicherer Hafen, wenn mein Kind mit mir beim Einkauf nur noch leere Reale sieht und zu mir sagt: „Mami, warum ist da alles leer?“ (letzten Freitag, den 13.3.2020 geschehen) Ein sicherer Hafen für meinen Sohn, wenn er den gewohnten Alltag, so wie er ihn kennt, nicht mehr leben kann. Ein sicherer Hafen, wenn er Orte wie Spielplätze, Personen wie seine Großmutter oder Tätigkeiten wie das Turnen im Verein vermisst. Ich stelle mir immer wieder die Frage, welche Erinnerungen ich für mein Kind schaffen möchte. Dies gilt auch für die derzeitige Krise. Die äußeren Umstände kann ich im Moment nur bedingt beeinflussen, doch als Mutter kann ich zu einem großen Teil die Entscheidung dafür übernehmen, welche Erinnerungen mein Sohn von diesen Monaten oder dieser Krise mit sich trägt – ein Leben lang. Perfektion ist mittlerweile ein Wort, mit dem ich nicht mehr viel anfangen kann. Perfekt unperfekt, unvollkommen, das ist es eher, was jeden einzelnen Menschen von uns ausmacht. Jeden Tag aufs Neue mache ich als Mutter viele Fehler und schaffe natürlich nicht nur wunderschöne, romantische Episoden der Familienidylle. Darum geht es mir auch überhaupt nicht. Doch Fehler einzugestehen, als Team in der Familie zu fungieren und zu vergeben, immer wieder aufs Neue, das sind Punkte, die ich und mein Mann beeinflussen können. Mich wundert es, wie schnell sich ein Kind an neue Situationen anpassen kann oder wie schnell sie sich offen fügen – fast ein wenig beneidenswert. Bewundernswert zugleich. Ich stelle immer wieder fest, welch wunderbare Dinge man durch Kinder lernen und erfahren darf, vor allem in Zeiten der Krise.

 

Autorin: Sarah Maria Malik

[1] Das Coronavirus Kindern einfach erklärt: https://www.youtube.com/watch?v=_kU4oCmRFTw

 

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