NL / Lebensende: Parlament befürwortet „Sterbehilfe“ für Kinder
IEF, 07.07.2023 – Künftig soll Sterbehilfe für Kinder zwischen einem und zwölf Jahren legal sein.
„Sterbehilfe“ für (Klein)Kinder
Bereits im April kündigte der niederländische Gesundheitsminister Ernst Kuipers an, Sterbehilfe für ein- bis zwölfjährige Kinder, „die an einer so schweren Krankheit oder Störung leiden, dass der Tod unvermeidlich und in absehbarer Zeit zu erwarten ist“, zu legalisieren (IEF-Bericht). Die Neuregelung werde eine „kleine Gruppe“ von fünf bis zehn Kindern unter zwölf Jahren pro Jahr betreffen, „bei denen die Möglichkeiten der Palliativmedizin nicht ausreichen, um ihr Leiden zu lindern“, so die Regierung.
Bereits jetzt können Kinder, die älter als zwölf Jahre sind, „Sterbehilfe“ beantragen. Bis zum Alter von 16 Jahren ist dafür die Zustimmung der Eltern erforderlich. „Sterbehilfe“ ist in den Niederlanden auch für Babys unter einem Jahr legal – ebenfalls mit Zustimmung der Eltern.
Belgien ist Vorreiter
In Belgien, das zeitgleich mit den Niederlanden bereits 2002 sowohl Suizidassistenz als auch Tötung auf Verlangen legalisierte, wurde „Sterbehilfe“ für Kinder jeden Alters 2014 erlaubt – vorausgesetzt das Kind stimmt seiner Tötung zu. Wie die Zustimmung des Kindes in der neuen Verordnung in den Niederlanden beurteilt werden wird, ist noch unklar.
Kritik: Verordnung statt regulären Gesetzgebungsprozess
Medienberichten zufolge wurde die Verordnung Ende Juni im Parlament debattiert. Die Zustimmung des Parlaments ist grundsätzlich bei einer Verordnung nicht notwendig. Nach jahrelangen Debatten scheint allerdings die Mehrheit der Parteien „Sterbehilfe“ für Ein- bis Zwölfjährige zu befürworten. Lediglich die Staatkundig Gereformeerde Partij habe sich gegen die Verordnung ausgesprochen und kritisierte die Umgehung des demokratischen Gesetzgebungsprozesses bei „diesem sensiblen Thema“. Für Gesundheitsminister Kuipers zähle dieses Argument nicht. Eine Gesetzesänderung benötige wesentlich mehr Zeit als eine Verordnung. Außerdem betreffe die Regelung „nur wenige Fälle“. Für eine Gesetzesänderung brauche es hingegen mehr Fälle.
„Fünf bis zehn Kinder pro Jahr sind jedoch keine Einzelfälle, über die man nicht im Parlament abstimmen müsse“, stellt Antonia Holewik, Leiterin der IEF-Politik Abteilung klar. „Schließlich geht es um fünf bis zehn Menschenleben pro Jahr, die des höchsten Schutzes im Staat bedürfen. Die Tötung von besonders vulnerablen Personengruppen wie Kleinkindern per Verordnung zu genehmigen, ist bezeichnend für eine Politik, die das Leben von Kindern geringachtet und die Interessen von Erwachsenen priorisiert. Dies hat nicht viel gemein mit Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten“, so Holewik.
Auch die Partei ChristenUnie stimmte der Verordnung grundsätzlich zu, wenn nur Fälle umfasst sein sollten, in denen „Palliative Care nicht greife“, das Leiden akut sei und eine gerichtliche Überprüfung vorläge.
Dänische Ärzte gegen Legalisierung von „Sterbehilfe“
In Dänemark wird derzeit über die Legalisierung von „Sterbehilfe“ für Volljährige debattiert. Wie CNE berichtet, haben Ärzte sich in einem offenen Brief gegen die Legalisierungspläne der Regierung gestellt. Ärzte und die Gesellschaft im Allgemeinen sollten den Patienten niemals sagen, dass ihre Situation so aussichtslos sei, dass es besser sei, ihnen beim Sterben zu helfen, so die Ärzte. Stattdessen plädieren sie für eine Palliativversorgung, die den Menschen das Leben erleichtert, Leiden lindert und bis zum Tod eine bestmögliche Pflege bietet. „Die Antwort auf Leid muss immer Zuwendung sein“, sind die Ärzte überzeugt und daher vehement gegen jede Form der „Sterbehilfe“.
IEF-Kommentar
Ein Schlüsselbegriff bei der Debatte um „Sterbehilfe“ ist die Selbstbestimmung des Menschen. Verfechter der „Sterbehilfe“ betonen immer wieder, dass es das Recht eines Menschen sei, über den Zeitpunkt und die Art und Weise seines Lebensendes zu bestimmen. Dies sei gleichzusetzen mit einem „Tod in Würde“. Eine selbstbestimmte Entscheidung setzt Freiheit („Autonomie“) und die Kenntnis über Alternativen voraus. So stellt sich die Frage, wie festgestellt werden kann, ob ein Mensch in seiner Entscheidung frei ist. Gibt es Faktoren wie Einsamkeit, Schmerzen etc. die die autonome Entscheidung einschränken? Mit dem Konzept der „freien“ Entscheidung befassten sich Experten um den schweizerischen Psychiater Dr. Raimund Klesse und kamen in einem Fachaufsatz (Bezahlschranke) zum Schluss, dass das Konstrukt der Freiverantwortlichkeit beim assistierten Suizid nicht der tatsächlichen Entwicklung suizidaler Krisen entspreche. Wenn dies für mündige Erwachsene gilt, wie können wir dann auch nur ansatzweise davon ausgehen, dass unmündige Minderjährige, die aus guten Gründen nicht einmal über „Taschengeldgeschäfte“ hinausgehende Verträge wirksam schließen können, in ihre eigene Tötung einwilligen könnten? Und wenn die Zustimmung nicht Voraussetzung sein sollte, müssen wir uns der Frage stellen, wem das Leid zu viel wird und ob wir dem Leid tatsächlich nichts anderes als die Tötung entgegenstellen können.
Wir haben den Palliativmediziner Dr. Gerald Muhri gefragt, ob es Fälle gibt, „in denen Palliativmedizin nicht greift“. Laut Muhri verfüge die Palliativmedizin über einen umfassenden Koffer an medikamentösen und nicht medikamentösen Methoden (nicht medikamentös: u.a. Zuwendung, Seelsorge, Psychotherapie, Aromatherapie), um nahezu jedes Leid schwerkranker Kinder und Jugendlicher (und Erwachsener) zu lindern. Er habe die Erfahrung gemacht, dass Kinder und Jugendliche meist einen natürlichen Umgang mit dem eigenen Sterben hätten. Während die Kinder selbst schon ihren bevorstehenden Tod akzeptiert hätten, würden sie manchmal noch um der Eltern willen weiterkämpfen. Genauso wäre es vorstellbar, dass Kinder der Eltern willen ihrer Tötung zustimmten – und dies nicht aus „freiem Willen“, sondern in natürlicher Abhängigkeit von den Vertrauenspersonen, auf die sie angewiesen seien. Der Palliativmediziner plädiert für eine umfassende Aufklärung von Eltern und Kindern/Jugendlichen über die Möglichkeiten der Palliativmedizin. Es sei darüber hinaus essenziel, konkret über Ängste und Sorgen zu sprechen und die jeweilige mögliche Antwort der Palliativmedizin zu kennen. Sollte das Leiden unerträglich werden, könne als Ultima Ratio eine palliative Sedierung körperliche Symptome gänzlich ausschalten, so der Arzt.