Cancel Culture
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INT / Meinungsfreiheit: Cancel Culture – Wo die Meinungsfreiheit endet

IEF, 10.05.2021 – Internationale Studien belegen: Wissenschafts- und Redefreiheit sind an Hochschulen immer öfter bedroht.

Die Grenze des Sagbaren

„Cancel Culture“ – ursprünglich in schwarzen, queeren Communities in sozialen Netzwerken entstanden, bezeichnet der Begriff den zunehmenden Trend, natürliche Personen, Unternehmen oder Organisationen, denen beleidigende oder diskriminierende Aussagen oder Handlungen vorgeworfen werden, sozial zu ächten. Was nicht als „politisch korrekt“ gilt, darf nicht mehr gesagt werden. Selbsternannte Verfechter der Meinungsvielfalt werden dann zu strengen Ideologen, die sich als Sprachpolizei verstehen und Zensur als zulässiges Mittel ansehen um die „freie Rede“ einzuschränken – denn es gibt sie: die „Grenze des Sagbaren“. Gezogen wird diese Grenze oft in sozialen Netzwerken. Ein „Shitstorm“ wird losgetreten. Kollegen, Freunde distanzieren sich öffentlich.

Wissenschaftler alarmiert

Wessen Meinung, oder Handlung als moralisch verwerflich gilt, hat mit politischer Gesinnung nichts zu tun. Beweis dafür ist das Anfang Februar in Deutschland gegründete Netzwerk Wissenschaftsfreiheit. Opfern der Cancel Culture will das Netzwerk seine Unterstützung anbieten und unzulässig ausgegrenzte Sichtweisen in eigenen Veranstaltungen wieder ein Forum verschaffen, solange sie sich im Rahmen der Gesetze bewegen, so heißt es in der ersten Pressemitteilung. 70 Wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum und unterschiedlichen akademischen Disziplinen haben sich zusammengeschlossen um, wie die Initiatorin und Migrationsforscherin Sandra Kostner im Rahmen einer Pressekonferenz betonte, auf eine Debattenkultur hinzuwirken, in der sich Redner keine Sorgen mehr darüber machen müssen, für bestimmte Standpunkte persönlich diskreditiert zu werden. Nach Einschätzung der FAZ lässt das Gründungsmanifest keine dahinterliegenden weltanschaulichen oder politischen Ziele erkennen. „Gemeinsame Basis ist die geteilte Beobachtung, dass der Konformitätsdruck in der Wissenschaft größer geworden sei und besonders bei gesellschaftlich strittigen Themen wie Geschlecht, Religion, Migration bestimmte Positionen unter weltanschaulichen oder moralischen Druck geraten seien, weshalb sie vermehrt in vorauseilendem Gehorsam ausgeschlossen würden.“, schreibt die FAZ.

Kein Platz für „falsche“ Ansichten

Eine aktuelle Studie zeigt, wie begründet die Sorge der Wissenschaftler ist. Nachdem es im vergangenen Jahr rund um eine Podiumsdiskussion zum Thema „Kopftuchverbot“ zu gewalttätigen Tumulten an der Frankfurter Goethe-Universität gekommen war, wählte diese zwei Sozialwissenschaftler für ihr Forschungsprojekt über mutmaßliche Beschränkungen der Redefreiheit an Hochschulen aus. In ihrem Ergebnis belegt die Studie nun die überraschend große Bereitschaft von Studenten, die Meinungsfreiheit einzuschränken. „Ein Drittel der Studierenden hat das Gefühl, sie könnten in einer Diskussion nicht sagen, was sie wirklich denken. Außerdem hat ein Teil der Studierenden angegeben, sie seien nicht bereit, an der Universität kontroverse Redner zu akzeptieren, je nach Thema waren das zwischen 31 und 66 Prozent.“, so der Soziologe Richard Traunmüller, einer der Initiatoren der Studie in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. 19 Prozent der rund 1.000 Befragten gab an, beim Thema Islam zu befürworten, dass Literatur mit abweichender Meinung aus der Universitätspolitik entfernt werde, 34 Prozent bewerteten das beim Thema Homosexualität als legitim.

Kritik an Cancel Culture von rechts und links

Dass jedoch auch massive Kritik an der Cancel Culture aus politisch linken Kreisen kommt, beweist das Beispiel des Dramaturgen und Publizisten Bernd Stegemann, der in den aktuellen Entwicklungen sogar eine Bedrohung der Werte der Aufklärung sieht, wie er im Interview mit dem Standard betont: „Die Aufklärung steht am Beginn der bürgerlichen Gesellschaft: Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Die Werte basieren auf dem Grundvertrauen, dass alle erst einmal gutwillig sind. Dieses Vertrauen unterliegt heute einem Erosionsprozess, der von der Ideologie des Neoliberalismus beschleunigt wird.“, so der Philosoph. In seinem zuletzt erschienenen Buch „Die Moralfalle“ beleuchtet er die Defizite der moralischen Kritik linksliberaler Eliten. „Moral ist die große Ordnungsinstanz. Und der Moralismus ersetzt die allgemeingültige Ethik durch die privaten Vorlieben. Alles soll so rein sein wie die schöne Seele, für die man sich selbst hält.“ Auch die Publizistin Judith Sevinç Basad greift in ihrem Buch „Schäm dich!“ die Identitätspolitik und Cancel Culture wegen „totalitärer Tendenzen“ an, will sich aber klar von Rechtsextremen und Rechtspopulisten abgrenzen, die sie für ihre Thesen loben. Den Applaus von der „falschen Seite“ zu bekommen, heiße doch nicht, „dass meine Thesen rechtsextrem sind. Dieses Argument: „Das kannst du nicht sagen, damit stärkst du die Falschen“, ist das dümmste, das ich kenne. Und es ist genau das, was unsere Gesellschaft spaltet. Es sollte doch um die Inhalte gehen, nicht darum, wer sie sonst noch vertritt. Und wir sollten Menschen wieder als eigenverantwortliche Individuen sehen, nicht als fremdgesteuert von einem System.“, betont Sevinç Basad  gegenüber der Presse.

Auch Pro-Life-Befürworter betroffen

Dass die Cancel Culture auch christliche Überzeugungen angreift, zeigt der Fall der Hebammenstudentin Julia Rynkiewicz, die in ihrem Rechtsstreit gegen die Universität von Nottingham von ADF unterstützt wurde. Rynkiewicz war Präsidentin von „Nottingham Students for Life“, einer Pro-Life-Studentengesellschaft. Aufgrund ihres Engagements für die Pro-Life-Organisation, die auf einer Studentenmesse für Erstsemestrige mit Informationsmaterial für ihre Anliegen geworben hatte, wurde Rynkiewicz von ihrem Studium zum Zwecke einer viermonatigen Untersuchung ihrer Berufstauglichkeit suspendiert. Nachdem alle Vorwürfe gegen sie zurückgewiesen wurden, erhob die Studentin Beschwerde gegen das Vorgehen der Universität und man einigte sich auf einen Vergleich. „Was mir passiert ist, birgt die Gefahr, dass Studenten Angst davor haben, über ihre Werte und Überzeugungen zu diskutieren, aber die Universität sollte der Ort sein, an dem man dazu eingeladen wird, genau das zu tun.“. Eine in Großbritannien durchgeführte, landesweite Umfrage ergab, dass 44% der Studenten sich vor Dozenten selbst zensieren, aus Angst, dass sie „anders behandelt“ würden, wenn sie ihre wirkliche Meinung äußern würden. Mehr als ein Drittel stimmte zu, dass die Zahl der studentischen Veranstaltungen, die wegen der Ansichten der Redner abgesagt wurden, zugenommen hat. „Gerade an der Universität sollten Studenten frei sein, zu debattieren und Ideen zu erforschen – insbesondere solche, mit denen sie nicht einverstanden sind. (…) Die heutige Zensurkultur auf dem Campus kann leicht zur Auslöschungskultur im öffentlichen Raum werden“, zeigt sich Ryan Christopher, Direktor von ADF International (UK) besorgt.

Als eine der Ursachen für die Vorverurteilung so mancher Redner führt Thomas Thiel in seinem Beitrag in der FAZ die „überhandnehmende Tendenz“ an, dass der Wert einer Aussage allein an der Herkunft des Sprechers gemessen wird. Diesen Trend gilt es nun gesellschaftlich hintanzuhalten. (KL)

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