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INT / Behinderung: Die vergessenen Kinder Brasiliens haben einen Engel

von Alice Pitzinger, erschienen in der Tagespost am 24. Oktober 2024

Die Gemeinschaft „Jesus Menino“ nimmt sich behinderter Kinder an, die eine Abtreibung überlebt haben und nun allein auf der Welt stehen. Ende September war die Gemeinschaft zu Besuch am IEF. 

Antônio Carlos Tavares de Mello, von “seinen“ Kindern liebevoll Tônio genannt, ist Gründer der Gemeinschaft „Jesus Menino“ in Brasilien. Zurzeit befindet er sich auf Europatour, um auf seine Mission aufmerksam zu machen. Seit mehr als 30 Jahren kümmert sich der 64-jährige Brasilianer um teilweise schwer behinderte Kinder, die eine Abtreibung überlebt haben, gibt ihnen ein Heim und eine Familie.

In Brasilien ist die Abtreibung bei Strafe verboten und wird mit bis zu drei Jahren Gefängnis geahndet. Die Schätzungen gehen dahin, dass jährlich bis zu einer Million illegale Abtreibungen vorgenommen werden. Teilweise versuchen die werdenden Mütter monatelang verzweifelt, ihr Kind mit Medikamenten im Mutterleib zu töten, schildert Tônio die Situation in Brasilien. Eine Abtreibung ist nur in Ausnahmefällen legal, etwa im Falle einer Vergewaltigung, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist und wenn das Kind fetale Anomalien aufweist.

„Widme den Kindern dein Leben“

Tônio, in einer katholischen Familie behütet aufgewachsen, hat 1990 begonnen, als freiwilliger Helfer in einer kleinen Gemeinschaft für behinderte Kinder zu arbeiten. Eines Tages wurde er in eine Klinik gerufen, um dort bei einem Fest zu helfen. Die Zustände, unter denen behinderte Kinder dort leben mussten, schockierten ihn nachhaltig. Eigentlich wollte Tônio Arzt werden, aber das Schicksal der verlassenen Kinder, die teilweise physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt waren, ließ ihn nicht zu Ruhe kommen. Er haderte mit Gott, und eines Nachts, so berichtet Tônio, hörte er Gottes Antwort: „Dann widme ihnen dein Leben, bleibe bei ihnen.“

De Mello suchte daraufhin seinen Bischof auf, der ihm riet, zu beten und noch einmal über seine Entscheidung nachzudenken. Der engagierte Kämpfer für behinderte Kinder, der am eigenen Leib erlebt hatte, mit welcher bedingungslosen Liebe diese Kinder Menschen begegnen, ließ sich nicht beirren. 1990 war es dann so weit: Er gründete in einem kleinen Mietshaus mit drei Zimmern die „Comunidade Jesus Menino“.

Im Mutterleib verprügelt

Ziel war und ist es, in kleinen Gruppen mit „verwaisten“ behinderten Kindern und Jugendlichen zusammenzuleben und ihnen ein „normales“ Familienleben zu bieten. Eines der ersten Kinder, die De Mello adoptiert hat, war Alexander, der ihn nun auch auf seiner Europareise begleitet. Der heute fast 40jährige ist vollkommen blind, kann nicht lesen und schreiben, aber wunderbar singen und komponiert Musik. Er singt diese vor und seine Betreuer schreiben die Noten dazu auf.

Sein Schicksal ist ein besonders tragisches. Sein Vater prügelte seine Mutter während der Schwangerschaft halb tot. Am Sterbebett flehte die Mutter die Ärzte an, ihr Kind gesund auf die Welt zu bringen. Der Junge wurde geboren und die Mutter verstarb noch während der Geburt. Die Schäden im Gehirn von Alexander, die durch die Schläge des Vaters verursacht worden waren, haben dazu geführt, dass er vollkommen blind ist. Der Vater musste ins Gefängnis, sein Sohn hatte lange Zeit keinen Kontakt zu ihm. Da er aber die Geburtsurkunde brauchte, um einen Pass beantragen zu können, hat die Gemeinschaft Kontakt zu ihm aufgenommen. Alexander hat daraufhin seinen Vater getroffen und ihm nach einem langen Gespräch verziehen.

Zwölf Häuser bei Rio de Janeiro

Dank zahlreicher Spenden und hunderter freiwilliger Helfer besitzt die Gemeinde heute ein Grundstück auf einem Berg in Petropolis nahe Rio de Janeiro, auf dem insgesamt zwölf Häuser entstanden sind, wo Kinder mit ihren je individuellen Bedürfnissen und Behinderungen eine neue Heimat gefunden haben. Die Gemeinschaft „Jesus Menino“ besteht aus einer vollkommen gemischten Gemeinde.

So lebt Tônio, wie einige anderen auch, zölibatär, andere Freiwillige sind verheiratet und betreuen in ihrer Familie behinderte Kinder. Ebenso wird die Gemeinschaft von zwei Psychologen und einem Priester begleitet, die sich um die psychische Gesundheit der Kinder kümmern, aber auch als Mediatoren und Seelsorger für die Menschen da sind, die sich um die Kinder kümmern.

„Wir sind eine geweihte Familie“

Die Pflege und Betreuung der teilweise bettlägerigen Kinder und Jugendlichen, aber auch der Tod einiger schwerer Fälle bringt alle Beteiligten oft an die Grenzen ihrer physischen und psychischen Kraft. Der Tagesablauf in der Gemeinschaft ist streng geregelt. Sofern die Kinder nicht bettlägerig sind, besuchen sie morgens die heilige Messe, dann gibt es Frühstück, anschließend steht Schule auf dem Programm, wo die Kinder ihren Möglichkeiten nach unterrichtet und betreut werden.

Nach dem Mittagessen gibt es Siesta, ein Gebet und wieder Schule. Nach dem Abendgebet wird geredet, gelacht und auf die Nacht vorbereitet. Sonst herrscht, so Tônio, Stille, „Wir sind keine NGO oder Krankenanstalt, sondern eine geweihte Familie“, beschreibt der Gründer den Stil der Gemeinschaft.

Die bettlägrigen Kinder werden von Pflegerinnen betreut. Einige Kinder leiden an Anenzephalie (eine Behinderung, bei der ein Teil des Gehirns fehlt), und haben eine sehr geringe langfristige Überlebenschance. Für Tônio kein Argument. Da ist die an ein Wunder grenzende Geschichte des kleinen Jungen Jean. Während der Schwangerschaft nahm seine Mutter immer wieder Medikamente, um ihn abzutreiben.

Schließlich kam Jean unerwartet am Eingang eines Spitals auf die Welt. Er hatte fast kein Gehirn und die Ärzte wollten ihn aufgeben. Die Gemeinschaft nahm sich des kleinen Jungen an, der heute seit fast neun Jahren in der Gemeinschaft lebt. Er ist ein Pflegefall, aber er ist, so beschreibt ihn sein Retter, sanftmütig, hat Gefühle und lächelt, wenn jemand den Raum betritt. Dass er schon neun Jahre lebt, ist ein Wunder Gottes, ist Tônio überzeugt.

Die Gemeinschaft erhält keinerlei Unterstützung seitens des Staates und ist angewiesen auf Geld- und Sachspenden sowie auf freiwillige Helfer aus aller Welt, die einige Monate in der Gemeinschaft leben und sich der vergessenen Kinder Brasiliens annehmen.

Weitere Informationen zur Gemeinschaft unter www.comunidadejesusmenino.org.br

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