AT / Politik: IEF-Analyse des Regierungsprogramms Teil 1
IEF, 31.01.2020 – Das neue Regierungsprogramm enthält interessante Schwerpunkte im Kampf gegen Menschenhandel, der Würdigung gesellschaftsrelevanter Arbeit und der Absicherung der Pflege.
Am 7.01.2020 wurde die neue Regierung angelobt. Erstmals wird nun eine Koalition aus ÖVP und den Grünen versuchen, Österreich gut in die Zukunft zu geleiten. Dr. Stephanie Merckens, Biopolitikerin am Institut für Ehe und Familie (IEF) hat das 326 Seiten starke Regierungsprogramm für Sie analysiert:
Wie wir schon im letzten Newsletter berichtet haben, war die erste Resonanz zu familien-, gesellschafts- und biopolitischen Vorhaben der neuen Regierung durchwegs vorsichtig positiv. Auch sonst gewinnt man beim Studium des Regierungsvorhabens den Eindruck, dass ein neuer Ton angeschlagen wurde. Teilweise füllen zwar immer noch recht interpretationselastische Überschriften die Seiten, aber in einzelnen Kapiteln – wie etwa im Bereich Umwelt- und Klimapolitik – spürt man an der detaillierten Ausarbeitung eine große Expertise der Verhandler. Grundsätzlich gewinnt man den Eindruck, dass es um pragmatische Sachpolitik geht und nicht um die sinnentleerte Bewahrung von Pfründen. Oder um es mit Wolfgang Sobotka, dem ersten Nationalratspräsidenten und ÖVP Schwergewicht aus einem Interview mit den OÖN zu sagen: “Die Grünen können argumentieren, sie hören zu. Sie haben die Einstellung, dass sie etwas verstehen wollen, auch wenn sie nicht derselben Meinung sind. Das habe ich so bisher noch nicht erlebt, und das fordert einen natürlich stärker heraus, die eigene Haltung mit Argumenten zu untermauern. Dieser Diskurs war spannend und bereichernd.“
Auch im Bereich Familien-, Gesellschafts- und Biopolitik wird es daher in den nächsten Jahr besonders wichtig sein, Sachargumente auf den Tisch zu legen und die genaue Ausarbeitung der einzelnen Punkte des Regierungsprogramms zu beobachten. Die wichtigsten darunter sollen in Folge hervorgehoben werden. Zu den einzelnen relevanten Textstellen lesen Sie weiter unter unserem neuen Schwerpunkt Regierungsprogramm 2020-2024.
Ad Menschenwürde und reproduktive Gesundheit
Die Regierung will das Projekt eines österreichischen Grundrechtskatalogs wieder aufnehmen. Schon in den Jahren 2003 bis 2005 tagte unter dem Vorsitz des ehemaligen Rechnungshofpräsidenten Dr. Franz Fiedler ein Verfassungskonvent, der 2005 seinen Abschlussbericht vorlegte und darin auch einen Grundrechtskatalog vorschlug. Insbesondere auch die Verankerung der Menschenwürde war – ähnlich dem deutschen Vorbild – darin bereits vorgesehen. Auch das neue Regierungsprogramm enthält das Vorhaben, die Menschenwürde als Grundwert in der österreichischen Verfassung abzusichern. Wie uns allerdings die Erfahrungen der letzten Jahre gezeigt haben, wird es sehr genau darauf angekommen, was unter Menschenwürde verstanden werden soll. So haben sich hier insbesondere in der Diskussion um Fragen am Lebensanfang und Lebensende miteinander völlig inkompatible Auffassungen entwickelt. Man denke hier etwa an die Frage des Rechtsschutzes von Menschen vor der Geburt, die entwickelten Anspruchsrechte im Zusammenhang mit der Fortpflanzungsfreiheit Erwachsener im Unterschied zu Abwehrrechten des zukünftigen Kindes etwa zum Schutz seiner Gesundheit oder auch die Diskussion um eine staatlich abgesegnete Ablebenshilfe. In all diesen Fragen bräuchte es eigentlich eine Richtungsentscheidung, was unter Menschenwürde verstanden werden soll bzw. für wen sie gilt und bis wann sie rechtlich geschützt ist. Ob es tatsächlich zu einer solchen kommt, oder doch wieder eine recht pragmatische, weil verschiedene Interpretationen erlaubende Definition verfolgt wird, bleibt abzuwarten.
Der Ausbau des Schutzes der Menschenrechte spielt für die neue Regierung auf mehreren Ebenen eine Rolle. So soll der Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Sicherheitsratsresolution 1325 „Frau, Frieden, Sicherheit“ vorangetrieben werden und Österreich im Rahmen seiner Mitgliedschaft im UN-Menschenrechtsrat bis Ende Dezember aktiv zur Entwicklung und Stärkung des internationalen Menschenrechtsschutzes beitragen. Ende Dezember 2020 findet zudem wieder einen Staatenprüfung Österreichs im Hinblick der Umsetzung seiner menschenrechtlichen Verpflichtungen statt.
Auch im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit wird das Thema Menschenrechte verfolgt und zur Umsetzung der Agenda 2030 könnte in der Regierung eine eigene Steuerungsgruppe eingesetzt werden.
Bei all diesen Vorhaben spielt es eine besondere Rolle, wie einzelne Menschenrechte interpretiert werden. Besonderes Augenmerk ist in diesem Zusammenhang auf die Formulierung der „reproduktiven Gesundheit und Rechte“ zu achten. Weltweit wird versucht, darunter ein Recht auf Abtreibung und einen Anspruch auf staatlich sichergestellte Abtreibungsmöglichkeiten zu subsumieren. Österreich hat sich bisher dagegen verwehrt. Eine Klarstellung wäre notwendig.
Ad Ehe und eingetragene Partnerschaft
Im Zusammenhang mit der Ehe überprüft die neue Regierung die Möglichkeit, ein Verbot der Ehe unter Cousins einzuführen. Dieses gibt es bis dato zivilrechtlich nicht. Tatsächlich ist die Ehe zwischen Cousins insbesondere mit türkischem Familienhintergrund auch in Österreich Realität. Erfreulich ist die Aufwertung der rechtlichen Information vor Eheschließung und Verpartnerung. Ambivalent ist allerdings die Einstimmigkeit hinsichtlich der Verkürzung des Zerrütungszeitraumes im Falle einer geplanten Scheidung zu sehen. Gleiches gilt für die Absicht, das Familien- und Eherecht grundsätzlich anwendungsorientiert an die heutigen gesellschaftlichen Lebensrealitäten anzupassen. Bei der Überprüfung des Verschuldensprinzips und der Zerrütung ist insbesondere im Zusammenhang mit der Ehe doch die Grundidee nicht zu schnell über Bord zu werfen, dass die Ehe eine von vornherein auf Lebenszeit ausgelegte Gemeinschaft ist. Diese Absicht eines nachhaltigen, auch belastbaren Zusammenhalts zwischen zwei Erwachsenen und den mit ihnen verbundenen Generationen ist nicht nur für die betroffenen Personen selbst, sondern auch für den Zusammenhalt einer Gesellschaft und der Absicherung demokratischer Funktionsmechanismen ein hohes Gut. Die österreichische Rechtsordnung sollte daher auch weiterhin Eheleute schützen, die bereit sind, dieser Absicht gemäß zu leben. Vereinfacht gesagt: derjenige, der für das gemeinsame Ziel bereit war eigene Interessen hintanzuhalten, soll nicht im Regen stehen gelassen werden. Die Absichtserklärung im Regierungsprogramm, bei den Überlegungen zur Weiterentwicklung des Eherechts den schwächeren Partner zu schützen, ist daher besonders genau zu beobachten. In diesem Zusammenhang ist eine Differenzierung zwischen Ehe und Eingetragener Partnerschaft durchaus denkbar. Gerade weil es die Eingetragene Partnerschaft für alle schon gibt, braucht man eine Einführung der „Ehe light“ nicht mehr zu fürchten – sie ist ja schon längst da.
Ad Familien
Ein wesentlicher Unterschied der neuen Regierung zur vergangenen türkis-blauen Regierung zeigt sich in einer der Definitionen von Familien. Während man im letzten Regierungsprogramm noch von der Familie als Gemeinschaft von Frau und Mann mit gemeinsamen Kindern als natürliche Keimzelle und Klammer für eine funktionierende Gesellschaft spricht, anerkennt die neue Bundesregierung die Vielfältigkeit unterschiedlicher Familienmodelle und formuliert keine gemeinsame Vorstellung einer Familiendefinition mehr. Dies war auch nicht zu erwarten. Umso mehr fällt auf, dass auch hier ein pragmatischer Zugang gewählt wurde und vor allem auf den Stabilitätsfaktor von Familien gesetzt wird, der unterstützt werden soll. Wörtlich heißt es: „Familien sind die wichtigste Gemeinschaft der Menschen. Familien geben Halt, bieten Schutz und Zuversicht und helfen einander in schwierigen Lebenslagen. Als Bundesregierung wollen wir aus diesem Grund Familien weiter stärken. Jedes Kind soll in einer liebevollen Umgebung und sozialer Sicherheit aufwachsen können. Die neue Bundesregierung anerkennt die Vielfältigkeit unterschiedlicher Familienmodelle, die Familie soll die Wahlmöglichkeit haben, ihr gemeinsames Leben zu gestalten. Aufgabe der Bundesregierung ist es, dafür die passenden Rahmenbedingungen in Bezug auf die Betreuung, Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsleben und die Bekämpfung von Kinderarmut zu schaffen.“
Im Kontext der Familienpolitik fällt positiv auf, dass es der Regierung hier nicht ausschließlich um Fragen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht, auch wenn dieser Aspekt natürlich an mehreren Stellen eine Rolle spielt. Man liest aber das ernsthafte Bemühen heraus bewusster machen zu wollen, dass unsere Gesellschaft nicht nur von Erwerbstätigen lebt, sondern auch maßgeblich auf unbezahlte Familienarbeit und ehrenamtliche Tätigkeit angewiesen ist. Interessant sind in diesem Zusammenhang etwa die Einrichtung eines eigenen Satellitenkontos in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR), durch das unbezahlte Haushalts- und Familienarbeit sichtbar gemacht werden soll, oder auch die Teilnahme an einer europaweiten Zeitverwendungsstudie.
Besonders zu begrüßen sind die geplante flächendeckende Bereitstellung und der Ausbau des Erfolgsprojekts „früher Hilfen“ sowie die substantielle Aufstockung des Frauenbudgets insbesondere auch im Zusammenhang mit Frauen- und Familienberatungsstellen. Ebenfalls erfreulich ist das Vorhaben des verpflichtenden Pensionssplittings der Eltern von Kindern bis zum 10. Lebensjahr sowie die Möglichkeit eines freiwilligen Pensionssplittings bei Paaren ohne Kinder oder ältere Kinder.
Beobachten sollte man die geplanten Anpassungen bei abstimmungsrechtlichen Fragen bei Kindern in Ehen zweier Frauen und bei Kindern in verschiedengeschlechtlichen eingetragenen Partnerschaften. Bei Fragen der Abstammung sollte besonders darauf Acht gegeben werden, dass sich an der eindeutigen österreichischen Regelung, dass die rechtliche Mutter nur jene Frau ist, die das Kind geboren hat (§ 143 ABGB), nichts ändert.
Ad Leihmutterschaft
Letzteres ist wesentlich auch für die Absicherung des österreichischen Verbots von Leihmutterschaft. In diesem Zusammenhang ist die wörtliche Erklärung hervorzuheben, am Verbot von Leihmutterschaft festhalten zu wollen und Maßnahmen gegen ihre Kommerzialisierung zu setzen. Gerade im Zusammenhang mit der jüngst bekanntgewordenen Entscheidung eines Tiroler Bezirksgerichts wurde deutlich, wie leicht das österreichische Verbot von Leihmutterschaft in Österreich umgangen werden kann. Umso mehr haben hier die geplanten Anstrengungen der Regierung Bedeutung, konsequent gegen Menschenhandel und Ausbeutung vorgehen zu wollen und auch das Bundesverfassungsgesetz Kinderrechte (BVG Kinderrechte) im Hinblick auf seinen Grundrechtsschutz zu evaluieren.
Ad Reproduktionsmedizin
Im Zusammenhang mit Kinderrechten ist vor allem das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner genetischen Herkunft hervorzuheben. Insbesondere ist es sehr erfreulich, dass sich die Regierung vorgenommen hat, nun endlich die Einrichtung eines zentralen Registers über Samen- und Eizellspenden einzuführen. Dies ist eine lange und wesentliche Forderung, um es Spenderkindern faktisch überhaupt zu ermöglichen, von ihrem Recht auf Kenntnis der genetischen Eltern Gebrauch zu machen.
Leider sieht das Regierungsprogramm sonst keine konkreten Schritte vor, wie der Vollzug des Fortpflanzungsmedizingesetzes verbessert werden könnte. Insbesondere werden laufend das beabsichtigte Werbe-, Kommerzialisierungs- und Vermittlungsverbot im Zusammenhang mit Eizellspende und Leihmutterschaft umgangen. Erforderlich wäre auch eine detailliertere und einheitliche Erfassung über die tatsächliche Relation von Lebendgeburten gegenüber der Zahl der Versuche (Baby-Take-Home Rate), die Zahl der Tot-, Fehl- und Frühgeburten, selektiver Abtreibungen und Geburtsschäden nach IVF. Vermisst werden zudem eine ausführliche klinische und wissenschaftliche Dokumentation vor und nach reproduktionsmedizinischen Eingriffen (von Nebenwirkungen bei Frauen bis Geburtsgewicht und Frühchen) sowie Follow-Up Studien mit Kindern und Frauen nach IVF (Langzeitstudien). Allerdings setzt das Frauenkapitel einen großen Schwerpunkt auf Frauengesundheit, weswegen die Hoffnung besteht, dass man sich diesen wesentlichen Aspekten der Frauengesundheit in diesem Zusammenhang widmen wird.
Ad Frauenpolitik
Im Zusammenhang mit Aspekten der Frauenpolitik werden vor allem Schwerpunkte im Bereich der Gewaltprävention und des Gewaltschutzes gesetzt sowie im Bereich der Frauengesundheit. Geplant ist ein up-skirting Verbot. Darunter versteht man das Verbot von nicht bewilligtem Fotografieren von (nackten) Frauenbeinen bis zum (kurzen) Rockansatz. Wie bereits oben ausgeführt ist der Schwerpunkt Frauengesundheit an sich ein sehr positiver. Allerdings ist gerade in diesem Zusammenhang darauf zu achten, dass nicht unter dem Deckmantel der reproduktiven Gesundheit ein Recht auf Abtreibung bzw. ein staatlich zu verantwortender Zugang zu (noch) niederschwelligeren Abtreibungsmöglichkeiten eingeführt wird. Hier ist eine Sensibilisierung mancher Entscheidungsträger dringend notwendig.
Natürlich aber spielt auch die Frage der Gleichstellung eine wesentliche Rolle in der Frauenpolitik. Interessant dabei ist der Zugang. Denn auch um die Fortschritte der Gleichberechtigung in Österreich besser beobachten zu können, nimmt Österreich an der bereits erwähnten europaweiten Zeitverwendungserhebung statt. Ich muss gestehen, dass ist eine Erhebung deren Ergebnis ich mit schmunzelnder Spannung erwarte. Vor allem, wenn ich daran denke, was Mütter so alles an einem Tag unter einen Hut bringen können. (StM)
Lesen Sie im nächsten Newsletter unsere Analyse Teil 2 zu den Themenbereichen Gender, Bildung, Pflege und Gesundheit, Behinderung und Pensionen.
Zum Regierungsprogramm im Wortlaut und relevanten Passagen nach Themen geordnet geht es hier.