NL / Lebensende: Gericht spricht Ärztin nach Tötung von Demenzpatientin vom Vorwurf des Mordes frei
IEF, 18.9.2019 – Ein Gericht in Den Haag hat eine Ärztin nach der Tötung einer demenzkranken Frau vom Vorwurf des Mordes freigesprochen. Die Medizinerin habe sorgfältig und nach den gesetzlichen Regeln gehandelt. Die Staatsanwaltschaft will das Urteil prüfen und dann über eine mögliche Berufung entscheiden.
Tötung der Demenzpatientin aufgrund jahrealter Patientenverfügung
Es war das erste Verfahren, das in den Niederlanden wegen „Tötung auf Verlangen“ eröffnet wurde, weshalb das Urteil als wegweisend erwartet worden war. Die angeklagte und nun freigesprochene Ärztin hatte im April 2016 eine 74-jährige Demenzpatientin in einem Pflegeheim per Injektion getötet. Wie das Institut für Ehe und Familie (IEF) berichtete, hatte die Demenzpatientin zwar mehrere Jahre zuvor eine Patientenverfügung für den Fall einer unheilbaren Krankheit verfasst, diese sei laut Staatsanwaltschaft jedoch „unklar und widersprüchlich“ formuliert gewesen. Seit ihrem Einzug ins Pflegeheim hatte die Patientin dann abwechselnd den Wunsch geäußert, nicht mehr leben bzw. nicht sterben zu wollen. Kurz vor ihrem Tod soll die Ärztin der Patientin ein Beruhigungsmittel in den Kaffee gemischt haben. Anschließend injizierte sie der Patientin das tödliche Medikament. Die Patientin wehrte sich dabei so stark, dass sie von den Verwandten festgehalten werden musste.
Kernfrage: Patientenverfügung ausreichend für demenzkranke Patienten?
Zentral sei im Prozess die Frage gewesen, ob eine Patientenverfügung als Grundlage für „Tötung auf Verlangen“ für demenzkranke Patienten ausreiche. „Das Gericht urteilt, dass der Arzt den aktuellen Sterbewunsch nicht verifizieren musste“, hieß es unverständlicherweise laut Medienberichten in dem Urteil. Denn, „die Patientin war tief dement und völlig unfähig, ihren Willen zu äußern.“ Bei der Patientin sei 2012 Alzheimer diagnostiziert worden, woraufhin sie im Rahmen einer Patientenverfügung bestimmt habe, im Falle der fortgeschrittenen Demenz „Sterbehilfe“ (Suizidbeihilfe bzw. Tötung auf Verlangen) in Anspruch nehmen zu wollen. Hausarzt und Angehörige hätten ausgesagt, die Patientin habe den Sterbewunsch mehrfach bekräftigt. Anfang 2016 habe der Hausarzt dann aber festgestellt, dass die Patientin nicht mehr wisse, was „Sterbehilfe“ bedeute. Trotzdem hatten die Ärztin und der Ehemann der demenzkranken Patientin im April 2016 beschlossen, das Leben der Frau zu beenden. Die Staatsanwaltschaft warf der Ärztin vor, die Patientin nicht noch einmal intensiv befragt zu haben. Das Urteil werde nun geprüft und anschließend über eine mögliche Berufung entschieden.
Kritik an Tötung demenzkranker Patienten
Die Tötungen demenzkranker Menschen gerieten bereits 2017 in den Fokus der Kritik. Damals hatte das einstige Zugpferd der Sterbehilfelegalisierung, der Psychiater Boudewijn Chabot, das niederländische Sterbehilfe-System als „entgleist“ bezeichnet. Er kritisierte die rasche Zunahme der Zahl von Menschen mit einer psychiatrischen Krankheit oder Demenz, die durch „Tötung auf Verlangen“ starben. Die Zahlen seien insbesondere in Hinblick auf die wachsende Anzahl von Menschen mit Demenz und chronischen psychiatrischen Erkrankungen besorgniserregend, wobei gleichzeitig das Budget in der Versorgung dieser Patientengruppen gekürzt werde. Chabot kritisierte weiter, dass die gesetzlichen Schutzmaßnahmen für Sterbehilfe langsam wegbrächen und Menschen mit psychiatrischen Leiden oder Demenz nicht mehr ausreichend geschützt würden.
Kann „deutlichen Wandel“ in der Auslegung der Sterbehilfegesetze nicht mittragen
Ebenso aus Protest gegen die steigende Zahl von Tötungen Demenzkranker trat Berna van Baarsen, eine Medizinethikerin aus dem niederländischen Kontrollgremium für Sterbehilfe-Fälle, bereits 2018 von ihrer Funktion zurück. Die Zahl der jährlichen Tötungen von Menschen mit Altersdemenz hatte sich in den vergangenen fünf Jahren vervierfacht. Berna Van Baarsen zog daraus die Konsequenz. Sie könne den „deutlichen Wandel“ in der Auslegung der Sterbehilfegesetze hin zu tödlichen Injektionen für Menschen mit Altersdemenz nicht mittragen, begründete die Medizinethikerin ihren Rücktritt. Demenzkranke Menschen können getötet werden, wenn eine entsprechende schriftliche Willenserklärung der Patienten vorliege, Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu wollen. „Ich denke nicht, dass eine schriftliche Willenserklärung den mündlich geäußerten Wunsch von durch fortschreitende Demenz eingeschränkten Menschen ersetzen kann. Das ist zu kurz gedacht“, äußerte sich van Baarsen. Sie betonte, dass Demenz „unberechenbar“ sei und die Patienten bei veränderlicher geistiger Leistungsfähigkeit länger leben könnten. Die Patienten würden in einem Moment Bekannte erkennen können, im nächsten wiederum nicht, erklärte die Medizinethikerin und fragt: „Was ist in solchen Situationen der richtige Zeitpunkt, um aktive Sterbehilfe zu gestatten?“ (TSG)