Wrongful Conception
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GB / Pro-Life: Behinderte Frau verklagt den Arzt ihrer Mutter, weil sie gezeugt wurde

IEF, 17.12.2021 – Der High Court of Justice in London gab einer Frau Recht, die den Arzt ihrer Mutter aufgrund eines Aufklärungsfehlers vor der Empfängnis verklagt hat.

Junge Frau ist erfolgreiche Springreiterin und Influencerin

Die Klägerin Evie Toombes wurde im November 2001 mit der Behinderung Lipomeningomyelozele, einer Form eines Neuralohrdefekts bzw. Spina bifida geboren. Die junge Frau leidet unter schweren körperlichen Beeinträchtigungen: sie wird künstlich ernährt und ist doppelt inkontinent. Da auch die Nerven ihrer Beine von der Behinderung betroffen sind, muss sie nachts spezielle Schienen zur Stabilisierung tragen. Trotz allem hat Toombes eine Karriere als Para-Springreiterin gemacht und eine Stiftung gegründet. Die Stiftung hat zum Ziel, das Bewusstsein für nicht sichtbare Krankheiten zu vergrößern. Das versucht Toombes mit ihrem Lebensmotto „Find a way, not an excuse!“ („Finde einen Weg, keine Entschuldigung!“) auch durch ihren Blog und ihren Instagram Account zu erreichen. In einem Instagrampost von Oktober 2021 erzählt die junge Frau von den Schwierigkeiten ihrer Beeinträchtigung und dass sie sich manchmal die Frage stelle, ob sich all die Mühen in ihrem Leben lohnten. Sie kommt zum Schluss: „Ich kann definitiv sagen, dass der Spaß und die Lebensqualität, an der wir permanent arbeiten, alle Mühen wert ist. Obwohl ich wünschte, dass das Leben leichter wäre, habe ich keinen Zweifel, dass es sich lohnt.“

Aufklärungsfehler des Arztes vor der Empfängnis

Dieselbe 20-jährige Frau hat nun den damaligen praktischen Arzt ihrer Mutter, Dr. Paul Mitchell, verklagt, dem sie einen Aufklärungsfehler bei der Beratung der Mutter noch vor ihrer Empfängnis vorwirft. Hätte der Arzt die Mutter ordnungsgemäß über die empfohlene Einnahme von Folsäure bereits vor der Empfängnis aufgeklärt, hätte die Mutter den Zeitpunkt der Empfängnis hinausgezögert und Evie Toombes wäre nie gezeugt worden (dieser Fall wird im juristischen Sprachgebrauch als „wrongful conception“ bezeichnet). Somit wäre ihr ihr schweres Schicksal erspart geblieben. Die Richterin Rosalind Coe gab der Klägerin in ihrem Urteil vom 1.12.2021 Recht. Bis dato waren die Eltern der Klägerin mit anderen gerichtlichen Schadenersatzforderungen gescheitert.

Die Mutter der Klägerin, Caroline Toombes, konnte die Richterin davon überzeugen, dass sie sich tatsächlich an die Empfehlung des Arztes, Folsäurepräparate bereits vor der Empfängnis einzunehmen, gehalten und diese auch eingenommen hätte, bevor sie versucht hätte, schwanger zu werden. Statt die Patientin über die Einnahme und den Zusammenhang zwischen Folsäurepräparaten und der Risikominimierung von Neuralohrdefekten bzw. Spina bifida aufzuklären, habe der Arzt behauptet, mit einer abwechslungsreichen Ernährung müssten keine speziellen Nahrungsergänzungsmittel eingenommen werden. Unmittelbar daraufhin hätte das Ehepaar versucht, schwanger zu werden und die Schwangerschaft sei eingetreten. Der angeklagte Arzt hatte in seinen Aufzeichnungen dokumentiert „Folsäurepräparat, wenn gewünscht“, erinnerte sich allerdings nicht mehr genau an das (vor knapp 21 Jahren stattgefundene) Beratungsgespräch. Die damaligen medizinischen Richtlinien hätten die Einnahme von Folsäurepräparaten bereits vor der Empfängnis und in den ersten 12 Wochen der Schwangerschaft empfohlen, stellte die Richterin fest. Die Dokumentation des Arztes sei lückenhaft und daher nicht überzeugend.

Zusammenhang zwischen Folsäure und Behinderung nicht Inhalt der Klage

Ein Zusammenhang zwischen der rechtzeitigen Einnahme von Folsäurepräparaten und dem Rückgang des Risikos eines Neuralohrdefekts bzw. Spina bifida sei wissenschaftlich belegt. Dies sei laut der Richterin in einem vorherigen Gerichtsfall, den die Mutter der jungen Frau geführt hatte, ausgeführt worden. Auch hätten genetische Dispositionen seitens der Eltern von Evie Toombes ausgeschlossen werden können. Zudem habe Caroline Toombes vor der Empfängnis des zweiten (nicht-behinderten) Geschwisterkindes bereits drei Monate Folsäurepräparate eingenommen. Das Gericht ging daher davon aus, dass ein genetisch unterschiedliches Geschwisterkind, das später empfangen worden wäre, nicht mit einem Neuralohrdefekt oder einem anderen Defekt geboren worden wäre. Darauf berief sich die Richterin bei ihrem jetzigen Urteil. Sie kam zum Schluss, dass erstens ein Aufklärungsfehler des Arztes vorgelegen hätte ohne den zweitens die Klägerin nicht gezeugt und damit nicht geboren worden wäre. Zu einem späteren Zeitpunkt hingegen hätte ein „normales gesundes Kind“ empfangen werden können, so das Resümee der Richterin.

Die Schadenersatzsumme, die gefordert wird, ist nicht bekannt. Medienberichten zufolge möchte der Arzt das Urteil nicht anfechten.

Österreich: Kein Recht, nicht geboren zu werden

In Österreich gebe es bislang kein vergleichbares Urteil, erklärt Teresa Suttner-Gatterburg, Expertin für Medizinrecht am Institut für Ehe und Familie (IEF). Bei den vom Obersten Gerichtshof (OGH) entschiedenen Fällen von „wrongful conception“ hätten bislang die Eltern geklagt (nicht die geborene Person selbst) und im Falle der Geburt eines nicht-behinderten Kindes kein Recht bekommen. Der OGH gehe bislang davon aus, dass ein „gesundes“, wenn auch unerwünschtes Kind, niemals ein Schadensfall sein könne (etwa OGH 14.9.2006, 6 Ob 101/6f oder OGH 7.8.2008, 6 Ob 148/08w). Ein Fall, in dem nach beispielsweise unsachgemäßer Durchführung einer Unfruchtbarkeitsbehandlung ein unerwünschtes und behindertes Kind zur Welt kam, sei bislang nicht anhängig gewesen. Es sei jedoch davon auszugehen, dass der OGH im Falle eines behinderten Kindes anders entscheiden würde, da er in der sogenannten „Kind-als-Schaden-Judikatur“ die Unterhaltskosten des behinderten Kindes als zu ersetzenden Schaden anerkenne (etwa OGH 7.3.2006, 5 Ob 165/05h).

Abgelehnt habe der OGH bisher den Fall, dass eine behinderte Person Schadenersatzansprüche aufgrund der eigenen Existenz („wrongful life“) geltend machen könne (etwa OGH 25.5.1999, 1 Ob 91/99k). Denn es sei nicht beurteilbar, ob das Leben mit einer schweren Behinderung nicht immer noch günstiger sei, als die Alternative nicht zu leben, so der OGH. Der Mensch habe grundsätzlich sein Leben so hinzunehmen, wie es von Natur aus gestaltet sei und daher keinen Anspruch auf dessen Verhütung oder Vernichtung durch andere, führte das Gericht weiter aus.

In Österreich wäre der britische Fall deshalb vermutlich anders entschieden worden, meint Suttner-Gatterburg. Das britische Urteil überzeuge aber weder bezüglich der Beweiskette noch aus ethischer Sicht. Abgesehen von der Rechtsunsicherheit für Ärzte, die durch dieses Urteil ausgeweitet werde, sei die Entscheidung des Gerichts, dass die junge Frau nie hätte gezeugt werden sollen, nämlich höchst bedenklich. „Das vernichtende Urteil sagt im Kern aus, dass es besser ist, wenn eine behinderte Person nicht gezeugt wird. Damit wird behindertes Leben negativ bewertet, was wiederum Auswirkungen auf das Leben behinderter Menschen und deren Familien hat“, so Suttner-Gatterburg abschließend. (TSG)

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