AT / Lebensende: Experten fordern „neue Humanisierung der Intensivmedizin”
IEF, 23.10.2017 – Anlässlich des Welt-Anästhesie-Tages am 16.10.2017 machen Österreichs Intensivmediziner auf das häufig tabuisierte Problem der Übertherapie aufmerksam. Die Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) fordert eine neue „Humanisierung“ der Intensivmedizin und einen Einsatz des medizinisch und technisch Möglichen mit Augenmaß. Denn fast 40 Prozent der Patienten erhielten kurz vor ihrem Tod noch Therapien, die medizinisch keinen Nutzen hätten, sondern Leid vergrößern und hohe Kosten verursachen würden.
„Nicht alles, was in der Medizin machbar ist, sollte auch immer gemacht werden”, mahnt Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar (Klagenfurt), Präsident der ÖGARI. Univ.-Prof. Dr. Barbara Friesenecker von der Universitätsklinik für Allgemeine und Chirurgische Intensivmedizin in Innsbruck erklärt weiter: „Unser Ziel muss es aber immer sein, aus den technischen Möglichkeiten nur jene Optionen auszuwählen, die Patientinnen und Patienten tatsächlich eine Verlängerung des Lebens bei gleichzeitiger Verbesserung der Lebensqualität bringen können.“ Übertherapie ziehe sich quer durch die gesamte Intensivmedizin. Das könne von der aussichtslosen Aufnahme auf die Intensivstation beginnen, sich bei der nicht selten praktizierten Überdiagnostik fortsetzen und letztlich im inadäquaten Einsatz maschineller Verfahren, teurer Medikamente und Therapien enden. In vielen Fällen werde das Sterben dadurch hinausgezögert. „Man weiß mittlerweile, dass Patientinnen und Patienten, bei denen man frühzeitig palliativmedizinische Konzepte in die Behandlung mit einbezieht, und auf belastende, aber keinen Nutzen bringende [Konzepte] verzichtet, manchmal sogar länger, aber mit Sicherheit besser leben als jene, bei denen bis zur letzten Minute alles technisch Mögliche ausgeschöpft wird.“, so Friesenecker.
ÖGARI-Präsident Likar fordert ein Umdenken im Bereich der Intensivmedizin. „Man tut oft mehr Gutes, indem man weniger tut. Etwas nicht zu tun erfordert oft mehr Courage und vor allem auch mehr Wissen, als alles zu tun, was die Medizin und Technik möglich machen“, ergänzt Friesenecker. „Es gibt allerdings einen Mangel an Wissen darüber, wie und zu welchem Zeitpunkt wir das Therapieziel vom Konzept der Heilung in Richtung palliative Betreuung verändern sollten.” Ebenso wichtig sei aber ein öffentlicher Diskurs über die gesellschaftliche Einstellungen an die Medizin zu hinterfragen. Es gebe eine Erwartungshaltung, dass die Medizin immer und alles machen könne. Sterben werde immer noch häufiger als Eingeständnis des Scheiterns gesehen als ein zu jedem Leben gehörender Teil akzeptiert, gibt Friesenecker zu Denken. Außerdem hätten viele Mediziner zunehmend Sorge vor juristischen Konsequenzen, da Angehörige den Einsatz aller Möglichkeiten fordern würden, auch wenn diese medizinisch keinen Sinn mehr machen würden. „Umgekehrt“, gibt Likar zu Bedenken, „stellt die Anwendung unangenehmer und schmerzhafter Interventionen ohne Aussicht auf Besserung nicht nur ein ethisches Problem dar, sondern ist rechtlich eine Körperverletzung und kann gerichtlich geahndet werden.“
Den Herausforderungen an Medizin und Pflege beim Umgang mit sterbenden Menschen widmet sich ein Symposium des Instituts für medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE) am 10.11.2017 im Raiffeisen Forum Wien.