Kindeswohl
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EU_CH / Leihmutterschaft: Laut EGMR kann die Verweigerung der Anerkennung der Elternschaft zweier Männer gegen das Kindeswohl verstoßen

IEF, 05.12.2022 – Die Elternschaft zweier Männer aus einer Leihmutterschaftsvereinbarung, die durch ein ausländisches Gericht bestätigt wurde, muss in der Schweiz anerkannt werden.

Im Fall D.B. and Others v. Switzerland hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein Urteil zu Leihmutterschaftskindern von gleichgeschlechtlichen Paaren gefällt. Von bisherigen Fällen unterscheide sich der Fall laut EGMR dadurch, dass die beiden im Verfahren beteiligten Männer in eingetragener Partnerschaft lebten. Der EGMR erkannte eine Verletzung des Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zulasten des Kindes. Durch die verweigerte Anerkennung des zweiten Elternteils habe die Schweiz das Kindeswohl verletzt. Eine Verletzung des Art. 8 EMRK zulasten der in gleichgeschlechtlicher Partnerschaft lebenden Männer erkannte der Gerichtshof nicht.

Sachverhalt: Leihmutterschaftsvertrag in den USA

Zwei Männer mit schweizerischer Staatsbürgerschaft, die in eingetragener Partnerschaft leben, hatten in den USA einen Vertrag über eine Leihmutterschwangerschaft abgeschlossen. Das Verfahren ist in der Schweiz verboten. Dabei trug eine Leihmutter das Kind aus, das mittels einer In-Vitro-Befruchtung mit den Samenzellen eines der beiden Männer gezeugt worden war und 2011 auf die Welt kam. Die US-Behörden erkannten in der Geburtsurkunde beide Männer als rechtliche Väter an. In der Schweiz wurde jedoch nur der biologische Vater als Elternteil anerkannt. Die Klagen der beiden Männer vor dem Schweizer Bundesgericht verliefen erfolglos, woraufhin sich die Kläger an den EGMR wandten. Die Schweiz hatte argumentiert, dass Leihmutterschaft zum Schutz von Leihmüttern und Kindern verboten sei und daher die ausländische Geburtsurkunde nicht übernommen werden könne. Die Stiefkindadoption für gleichgeschlechtliche Paare war rechtlich erst ab 2018 möglich. Nach einer entsprechenden Gesetzesänderung adoptierte der intendierte Vater 2018 das Kind per Stiefkindadoption.

Urteil: Verletzung des Kindeswohls

Der EGMR sah in der verweigerten Anerkennung des zweiten Elternteils einen Verstoß gegen das Kindeswohl. Es sei unverhältnismäßig gewesen, dem Kind eine verlässliche rechtliche Bindung an den zweiten Mann, den intendierten Vater, zu verweigern, so die Straßburger Richter. Bis zur rechtlichen Ermöglichung der Stiefkindadoption seien zwischen Geburt und Antrag auf Adoption knapp acht Jahre vergangen. Die Rechte des Kindes dürften nicht von der sexuellen Orientierung der Eltern abhängen, so das Gericht.

Das Urteil kritisierte insbesondere die lange Wartezeit zur Herstellung der rechtlichen Familienverhältnisse. Da es acht Jahre lang dauerte, bis der intendierte Vater als rechtlicher Elternteil anerkannt wurde, habe die Schweiz den ihr zustehenden Ermessenspielraum überschritten und durch die Verweigerungshaltung das Kind in seinem Recht auf ein Familienleben verletzt. Die Schweiz hätte eine effektive und zeitlich vertretbare Anerkennung der rechtlichen Familienverhältnisse ermöglichen müssen.

Dass die beiden Männer zuvor wissentlich gegen das Schweizer Verbot einer Leihmutterschaft verstoßen hatten, spiele laut Gericht in Bezug auf die Rechte des Kindes keine Rolle. Die Schwierigkeiten bei der Anerkennung der rechtlichen Familienverhältnisse seien allerdings zu erwarten gewesen, da die Männer eine in der Schweiz unzulässige Form der Familiengründung gewählt hätten. Eine Verletzung des Art. 8 EMRK in Bezug auf den biologischen und den intendierten Vater sei daher nicht erkennbar.

IEF-Kommentar: Nationale Verbote sind zahnlos

Das Urteil bezieht sich auf den Zeitraum, bevor die Stiefkindadoption auf gleichgeschlechtliche Paare ausgeweitet wurde. Die Stiefkindadoption stellt in der Argumentation des Gerichts eine „rechtliche Alternative“ zur direkten inhaltlichen Übernahme der ausländischen Geburtsurkunde dar, weil es laut dem Gericht um die rechtliche Absicherung des Kindes gehe. Diese Absicherung war im entsprechenden Fall nicht gegeben, da die Übernahme der Geburtsurkunde verweigert wurde, aber keine Alternative für die rechtliche Vaterschaft des intendierten Vaters angeboten wurde. Ein ähnlich gelagerter Fall würde nach 2018 vermutlich anders entschieden werden, da seither die Stiefkindadoption die rechtliche Absicherung des Kindes in der Schweiz ermöglicht.

Der EGMR bestätigt den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten in Bezug auf ihre Befugnisse, eigene Gesetze zu Leihmutterschaft, einschließlich des Verbots der Leihmutterschaft, zu erlassen. Auch die Weigerung, sachlich ungenaue Geburtsurkunden in nationale Register zu übertragen, ist davon gedeckt. Das Urteil zeigt andererseits, dass nationale Verbote von Leihmutterschaft zahnlos sind, wenn es kein internationales Verbot von Leihmutterschaft gibt. Um nach der Geburt des Kindes, im Sinne des Kindeswohls möglichst stabile rechtliche Familienverhältnisse herzustellen, werden Familienkonstellationen in nationalen Rechtssystemen anerkannt, die den dortigen Regelungen widersprechen. Dies hat negative Auswirkungen auf den generalpräventiven Schutz des Kindeswohls. Das Urteil zeigt auch auf, dass Personen, die Kinder aus Leihmutterschaft „erwerben“, mit keinen rechtlichen Konsequenzen rechnen müssen, obwohl Leihmutterschaft im Wohnstaat verboten ist. Um Frauen vor Ausbeutung und Kinder vor Verletzung ihrer Rechte wie dem Recht auf Kenntnis der Abstammung oder dem Verbot vor Kinderhandel zu schützen, ist daher ein internationales Verbot von Leihmutterschaft notwendig.

Aktion leben: Leihmutterschaft ist keine Privatsache

Anlässlich des Tages der Kinderrechte am 20. November betonte aktion leben, dass Leihmutterschaft keine Privatsache sei. Vielmehr sei darauf hinzuweisen, dass Leihmutterschaft Frauen- und Kinderrechte verletze. In der kommerzialisierten Leihmutterschaft werde das Kind zur Ware, kritisierte aktion leben. Zudem sei eine Leihmutterschaft fast immer eine Schwangerschaft mit einer fremden Eizelle. Diese sei mit Fehlgeburten und hohen gesundheitlichen Risiken sowohl für das Kind als auch die Mutter verbunden. Die Leihmutter werde von den Anbietern gewöhnlich als bloßes Gefäß betrachtet und müsse das Kind sofort nach der Geburt abgeben. Deshalb würden viele Leihmütter vorgeburtlich meist jeden Beziehungsaufbau und tiefere Bindung mit dem ungeborenen Kind vermeiden. „Dies wirkt sich nachweislich negativ auf die Entwicklung des Babys aus. Davon erfahren die Auftragseltern aber selten“, unterstreicht Martina Kronthaler, Generalsekretärin von aktion leben. Kronthaler kritisiert auch die einseitige Darstellung von Leihmutterschaft. Nicht nur die Institutionen, die Leihmutterschaft anbieten, würden in Hochglanzbroschüren ausschließlich dankbare und glückliche Auftragseltern mit ihren Kindern abbilden, sondern auch Berichte über Prominente wie jüngst Rebel Wilson würden Leihmutterschaft als etwas „Normales“ erscheinen lassen. Aktion leben fordert daher eine ausgewogene und kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Leihmutterschaft. „Vielen ist nicht bewusst, welche Auswirkungen eine Leihmutterschaft hat“, so Kronthaler. (TSG)

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