EU_BE / Lebensende: Mortier vs. Belgien – EGMR erkennt Verletzung des Rechts auf Leben
IEF, 06.10.2022 – Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte Verfahrensmängel bei der nachträglichen Überprüfung eines „Sterbehilfe“-Falles fest.
Laut dem Urteil vom 04.10.2022 des Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall Mortier vs. Belgien habe Belgien die ordnungsgemäße Aufarbeitung im Fall Godelieva de Troyer verabsäumt und dadurch das Recht auf Leben verletzt. Die Anfechtung des belgischen „Sterbehilfe“-Rechtsrahmens wies der EGMR ab, ebenso die Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben.
Der Sachverhalt
Die 64-jährige Godelieva de Troyer starb im April 2012 durch „Tötung auf Verlangen“. Die körperlich gesunde Frau litt unter „nicht behandelbaren Depressionen“. Mit dieser Diagnose wurde ihr Antrag auf Tötung auf Verlangen akzeptiert. Der Onkologe, der die tödliche Injektion verabreichte, Professor D., war zugleich Mitglied der Föderalen Kontroll- und Bewertungskommission (FCECE), die für die nachträgliche Überprüfung und Genehmigung der „Sterbehilfe“-Fälle in Belgien zuständig ist. Der Psychiater, der de Troyer jahrelang aufgrund ihrer Depression behandelte, wurde im Genehmigungsprozess der Tötung auf Verlangen weder von Professor D. noch von der Klinik, in der die Tötung auf Verlangen durchgeführt wurde, kontaktiert. Der Psychiater bezweifelte nach dem Tod seiner Patientin, dass die Diagnose für eine Tötung auf Verlangen gemäß den gesetzlichen Vorgaben ausreichend gewesen sei. De Troyer starb im Beisein einiger Freunde. Ihre Kinder waren über den Zeitpunkt der tatsächlichen Durchführung nicht informiert. Monate vorher hatte sie ihrem Sohn und ihrer Tochter eine E-Mail geschrieben, in der sie ihre Absicht, sterben zu wollen, mitteilte. Am Tag nach dem Tod informierte die Klinik ihren Sohn Tom Mortier über den Tod seiner Mutter durch „Sterbehilfe“. Mortier versuchte daraufhin, eine sorgfältige Aufarbeitung des Todesfalles und der vorangegangenen Zulassung zu erwirken. 2013 bestätigte das Kontrollgremium, dass der Todesfall de Troyers in Einklang mit den gesetzlichen Bestimmungen zur Tötung auf Verlangen gestanden hätte. Mortier insistierte weiter. Er forderte bei der zuständigen Stelle die Dokumentation über den Fall seiner Mutter an. Diese wurde ihm nicht zugänglich gemacht mit der Begründung, die Herausgabe sei gesetzlich nicht gestattet. 2014 erstattete Mortier Strafanzeige gegen Unbekannt aufgrund der Tötung auf Verlangen seiner Mutter. Das Verfahren wurde 2017 wegen unzureichender Beweise eingestellt. 2019 eröffneten die Justizbehörden erneut strafrechtliche Ermittlungen zu den Umständen des Todesfalles. Dabei stellte der bestellte Gutachter fest, dass weder die dem Kontrollgremium vorgelegte Sterbehilfeerklärung de Troyers noch deren Beurteilung in der Akte gefunden werden konnte. Dennoch wurde das Verfahren im Dezember 2020 eingestellt, da die Staatsanwaltschaft zum Schluss kam, dass die Tötung auf Verlangen de Troyers materiell-rechtlich gedeckt gewesen sei.
Die Anklagepunkte
Mortier erhob mit rechtlichem Beistand der international tätigen Menschenrechtsorganisation Alliance Defending Freedom (ADF) Klage gegen Belgien vor dem EGMR.
Die Anklage setzte sich aus drei Punkten zusammen. Mortier argumentierte, dass Belgien erstens das Recht auf Leben seiner Mutter (gemäß Art. 2 Europäische Menschenrechtskonvention EMRK) und zweitens sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) verletzt habe, da es den Schutz des Lebens besonders vulnerabler Personengruppen entsprechend der EMRK verabsäumt habe. Darüber hinaus habe Belgien drittens sein Recht auf ordentliche Anhörung verletzt.
Verletzung des Rechts auf Leben bei der nachträglichen Überprüfung des Falles
Das Gericht stellte eine Verletzung des Rechts auf Leben hinsichtlich der nachträglichen Begutachtung des Todesfalls fest. Belgien habe seine positive Verfahrenspflicht gemäß Art. 2 EMRK sowohl wegen mangelnder Unabhängigkeit der Kontrollkommission FCECE als auch wegen überlanger Dauer der strafrechtlichen Ermittlungen nicht erfüllt. Das Gericht stellte fest, dass in diesen beiden Bereichen das Recht auf Leben verletzt worden sei.
Im vorliegenden Fall habe das Kontrollgremium, dem eine entscheidende Rolle bei der Überprüfung der „Sterbehilfe“-Fälle zukomme, seine Unabhängigkeit nicht gewährleistet. Die Tatsache, dass derselbe Arzt, der die „Sterbehilfe“ durchführe, im Nachhinein an der Beurteilung des Falles im Kontrollgremium mitwirke, widerspreche laut Gericht den Schutzmaßnahmen, die Art. 2 EMRK erfordert. Hätte das Kontrollgremium eine größere Mitgliederzahl, könnte verhindert werden, dass ein Mitglied über den eigenen Fall entscheiden könne, so das Gericht.
Hinsichtlich der langen Dauer der beiden angestrengten strafrechtlichen Verfahren zur Aufarbeitung des Falles und unter Hinweis auf die mangelhafte Sorgfalt während des ersten Verfahrens kam der EGMR zum Schluss, dass Belgien den Grundsatz der zügigen Durchführung des Ermittlungsverfahrens, der gemäß Art. 2 EMRK geboten gewesen wäre, verletzt habe.
Keine Rechtsverletzung durch den gesetzlichen Rahmen der „Sterbehilfe“
Der EGMR kam zum Schluss, dass der gesetzliche Rahmen der „Sterbehilfe“ in Belgien den Schutz des Lebens der Patienten gemäß Art. 2 EMRK gewährleiste, wodurch keine Verletzung des Rechts auf Leben gegeben sei. Darüber hinaus sei bei der Durchführung der Tötung auf Verlangen im Fall der Godelieva de Troyer keine Verletzung des Rechts auf Leben feststellbar gewesen, da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt worden seien. Betreffend den fehlenden „Sterbehilfeantrag“ in der Akte de Troyers zog das Gericht keinen Schluss. Da der durchführende Arzt in Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben alle Möglichkeiten ausgeschöpft habe und die Frau mehrmals darauf hingewiesen habe, ihre Kinder zu kontaktieren, was diese ablehnte, konnte das Gericht keine Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben (Art. 8 EMRK) erkennen.
EGMR: Keine Ableitung eines Rechts auf „Sterbehilfe“ möglich
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erinnerte in seinem Urteil daran, dass sich aus dem Recht auf Leben, das eines der wichtigsten Rechte der Konvention darstelle, kein Recht auf „Sterbehilfe“, weder durch die Unterstützung eines Dritten noch durch die öffentliche Hand, ableiten ließe. Das Gericht stellte außerdem klar, dass der behandelte Fall weder das Bestehen noch das Nichtbestehen eines Rechts auf „Sterbehilfe“ zum Gegenstand habe.
Gibt das Urteil einen Anstoß für eine Debatte über „Sterbehilfe“?
Mortier vs. Belgien ist der erste Fall vor dem EGMR, der die „Sterbehilfe“-Regelung eines Staates in Frage stellt und den Vorwurf einer Verletzung des Rechts auf Leben erhebt. Wenn das Urteil auch ambivalent ist, ist die Tatsache, dass der EGMR zumindest bei der nachträglichen Beurteilung des Todesfalls eine Verletzung des Rechts auf Leben festgestellt hat, bemerkenswert. Das Urteil bietet außerdem die Chance einer Debatte über die bestehenden „Sterbehilfe“-Gesetze sowie die Schutz- und Kontrollmechanismen.
In Belgien sind Tötung auf Verlangen und assistierter Suizid seit 2002 legal. Die entscheidungsfähige Person muss sich in einer medizinisch ausweglosen Situation befinden, in der ein anhaltendes, unerträgliches physisches oder psychisches Leid besteht, das nicht gelindert werden kann. Seit 2014 ist die Volljährigkeit beziehungsweise Mündigkeit keine Voraussetzung mehr. Während die Voraussetzungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten kontinuierlich ausgeweitet wurden, stiegen die Zahlen der „Sterbehilfe“-Fälle jährlich.
Wissenschaftler verweisen auf Lücken im belgischen „Sterbehilfe“-Gesetz
Wie das Institut für Ehe und Familie (IEF) berichtete, hatte eine im Jahr 2021 publizierte Studie die Problematik der gesetzlichen „Sterbehilfe“-Regulierung aufgezeigt und deren mangelhafte Umsetzung kritisiert. Die Studienautoren kritisierten unter anderem die Definition „der Schwere der Krankheit“. So sei unklar, wie das im Gesetz enthaltene Konzept einer Erkrankung zu verstehen sei oder wer darüber entscheiden sollte, ob diese Erkrankung „ernst“ sei. Die FCECE würde beispielsweise auch jenen Patienten den Zugang zu Tötung auf Verlangen zusprechen, die eine bestimmte Therapie ablehnten. Damit würde sie das Kriterium der „Unheilbarkeit“ in die Sphäre des Patienten verschieben und zu einem subjektiven Kriterium uminterpretieren, das sich nicht nur auf Erkrankungen, für die es keine effektive Heilbehandlung gibt, sondern auch auf solche, für die es keine für den Patienten annehmbare Behandlung gibt, beziehen. Die gesetzliche Voraussetzung der „Unheilbarkeit“ erweise sich auch im Zusammenhang mit „Sterbehilfe“-Ansuchen aufgrund eines psychischen Leidens als problematisch. Laut einer belgischen Studie, die 100 „Sterbehilfe“-Fälle von Menschen mit einer psychischen Erkrankung analysierte, hätten Psychiater zur Erfüllung der „Sterbehilfe“-Voraussetzungen mit den Patienten lediglich die möglichen Behandlungsmethoden besprochen, ohne diese jemals auszuprobieren. Bei multimorbiden Patienten über 80 Jahren würden zunehmend körperliche Beeinträchtigungen wie Sehschwäche, Inkontinenz oder Polyarthritis als Voraussetzung für „Sterbehilfe“ akzeptiert. Da es sich um alterstypische Erscheinungen handle, führe man dadurch die „Sterbehilfe“ für „Lebensmüde“ durch die Hintertür ein, so die Kritik der Wissenschaftler.
Das nachträgliche Kontrollsystem halten die Studienautoren für zahnlos. Sie kritisieren die mangelnde Unabhängigkeit des Kontrollgremiums, das nun im Fokus des aktuellen Urteils stand. Die Besetzung und Abstimmungsregeln des Gremiums würde mehr Ärzte decken als vulnerable Personen schützen. Von den der FCECE vorgelegten 21.126 Fällen sei erst ein Fall, nämlich der de Troyer-Fall, der Staatsanwaltschaft vorgelegt worden.
Mortier: „Wir haben die Fähigkeit verloren, uns umeinander zu sorgen“
In Reaktion auf das Urteil stellte Tom Mortier laut ADF International fest, dass nichts den Verlust seiner Mutter wettmachen könne. Er hoffe aber, dass das Urteil die Gesellschaft darauf aufmerksam mache, dass „Sterbehilfe“ nicht nur Menschen in prekären Lebenssituationen einen immensen Schaden zufüge, sondern auch deren Familien und damit der gesamten Gesellschaft. „Das große Problem unserer Gesellschaft ist, dass wir anscheinend die Fähigkeit verloren haben, uns umeinander zu sorgen“, so Mortier. (TSG)