EU_AT / Gender: EGMR verneint Recht auf Eintragung eines dritten Geschlechts
IEF, 08.02.2023 – In seinem neuesten Urteil verpflichtet der EGMR die Mitgliedstaaten nicht dazu, ein drittes Geschlecht einzuführen.
Eine intersexuelle Person (aufgrund biologischer Merkmale nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordenbar) wandte sich an die französischen Behörden, um ihre bei der Geburt erfolgte Eintragung als „männlich“ auf „neutral“ oder „intersexuell“ ändern zu lassen. Mit Berufung auf die Notwendigkeit eines zuverlässigen Personenstandsregisters wiesen die zuständige Behörde und auch das Berufungsgericht den Antrag ab. Die Person wandte sich daraufhin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit der Beschwerde, in ihrem Recht auf Privat- und Familienleben gemäß Art 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt worden zu sein.
EGMR: „Drittes Geschlecht hat weitreichende Rechtsfolgen“
In seinem Urteil wies der EGMR zuerst darauf hin, dass er nicht verkenne, dass die Diskrepanz zwischen der biologischen und rechtlichen Identität Leid und Besorgnis beim Betroffenen hervorrufe. Die triftige Argumentation der französischen Behörde, dass der Grundsatz der Unabdingbarkeit des Personenstandes zu achten sei und die Beständigkeit und Zuverlässigkeit des Personenstandsregisters sowie der derzeit geltenden sozialen und rechtlichen Regelungen unbedingt gewahrt werden müssten, seien aber den Interessen des Beschwerdeführers entgegenzuhalten. Zudem zog der EGMR die Begründungen des Berufungsgerichts heran, nach denen die Anerkennung eines „neutralen Geschlechts“ weitreichende Konsequenzen für das französische Recht haben würde. Dieses basiere nämlich auf dem Grundsatz zweier Geschlechter. Eine Adaption dieses Grundsatzes würde mit etlichen damit zusammenhängenden Gesetzesänderungen einhergehen. Der EGMR führte weiters aus, dass die Einführung einer zusätzlichen „Genderkategorie“ Sache der Gesetzgebung und nicht der Gerichtsbarkeit sei und das nationale Gericht im Einklang mit dem Prinzip der Gewaltentrennung, ohne die es keine Demokratie gebe, agiert habe. Der EGMR kam daher zu dem Schluss, dass keine Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben vorliege und es dem französischen Staat selbst überlassen bleiben müsse, in welchem Umfang und mit welcher Geschwindigkeit er den Forderungen von intersexuellen Personen nachkommen wolle.
Alternativer Geschlechtseintrag schon länger in Österreich
In Österreich brachte ein intergeschlechtlicher Antragsteller bereits im Jahr 2018 dasselbe Begehren vor die Gerichte. Der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) bestätigte ein Recht auf individuelle Geschlechtsidentität, das auch die Pflicht von Personenstandsbehörden umfasse, bei Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung auf Antrag eine alternative Bezeichnung einzutragen. Dabei bezog sich das Höchstgericht insbesondere auf die Bezeichnungen „divers“, „inter“ oder „offen“, die seit einem Erlass des Innenministeriums Alternativen zu den Eintragungsmöglichkeiten „männlich“ und „weiblich“ darstellen. Besonders LGBTIQ-Aktivisten zeigen sich nicht zufrieden mit diesen Entwicklungen und plädieren für Selbstbestimmung beim Geschlechtseintrag ohne verpflichtende medizinische Diagnosen und ohne bürokratische und finanzielle Hürden. So richteten im Jahr 2020 64 Organisationen einen offenen Brief an den damaligen Innenminister Karl Nehammer mit der Aufforderung, die Eintragungsmöglichkeiten „weiblich“, „männlich“, „offen“, „inter“ und „divers“ allen Personen zur Verfügung zu stellen, ungeachtet ihrer biologischen Geschlechtsmerkmale. Der Geschlechtseintrag im Personenstandsregister solle zudem mehrmals gewechselt werden können und dessen Änderung lediglich durch Selbstauskunft vor dem Standesamt erfolgen. Nehammer hielt allerdings daran fest, dass die Feststellung des Geschlechts eine medizinische Frage sei.
Etappensieg fĂĽr Genderklage
Auf die Untätigkeit des Innenministeriums reagierte der Verein Nicht-Binär (Venib) Anfang 2021 mit einer Klage auf Anerkennung nicht-binärer Geschlechtsidentitäten beim Verwaltungsgericht Wien, die unter dem Begriff „Genderklage“ öffentliche Bekanntheit erlangte. „Für Menschen, die weder Frau noch Mann sind oder eine Einordnung grundsätzlich ablehnen, aber keine Variationen der Geschlechtsmerkmale aufweisen, besteht zurzeit keine Möglichkeit, ihre Geschlechtsidentität in offiziellen Dokumenten widerzuspiegeln“, lautete die Begründung der Beschwerdeführer. Das Verwaltungsgericht Wien hat nun kürzlich der Klage stattgegeben und eine Änderung des Geschlechtseintrags der beschwerdeführenden Partei von „weiblich“ auf „nicht-binär“ zugelassen. Einen medizinischen Nachweis für die Änderung des Geschlechtseintrages muss die klagende Partei daher nicht mehr erbringen. Erfreut über die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zeigten sich Anhänger der Genderklage, die HOSI Wien (Homosexuellen-Initiative) und auch Grünen-Abgeordnete Ewa Ernst-Dziedzic, alle jedoch mit Vorbehalt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig und eine Revision durch das Innenministerium an den Verwaltungsgerichtshof wird von vielen Seiten mit Spannung erwartet. (TS)