EU / Abtreibung: „Recht auf Abtreibung“ auf Vormarsch im EU-Parlament
IEF, 13.07.2022 – Aus Solidarität mit den amerikanischen Frauen will das EU-Parlament ein „Recht auf Abtreibung“ in die EU-Grundrechtecharta aufnehmen.
Bereits bevor die Grundsatzentscheidung Roe vs. Wade in einer historischen Entscheidung vom US-Supreme Court gekippt wurde, hat sich das EU-Parlament aus Anlass der geleakten Urteilentwurfsveröffentlichung in einer Resolution vom 9. Juni 2022 für ein „Recht auf Abtreibung“ ausgesprochen (das IEF hat dazu berichtet). Nun geht das EU-Parlament einen Schritt weiter und möchte ein vermeintliches „Recht auf Abtreibung“ in die EU-Grundrechtecharta (GRC) aufnehmen. Eine entsprechende rechtlich nicht bindende Entschließung wurde am 7. Juli 2022 mit 324 zu 155 Stimmen und 38 Enthaltungen angenommen. Konkret soll der Artikel 7 der Grundrechtecharta, der derzeit die Achtung des Privat- und Familienlebens schützt, durch den Satz „Jeder hat das Recht auf sichere und legale Abtreibung“ ergänzt werden. Dieser Vorschlag soll nun in einem nächsten Schritt dem Rat als zweitem Gesetzgebungsorgan der EU unterbreitet werden.
Abstimmungsverhalten und Umsetzungshürden
Während Sozialdemokraten, Grüne und Linke fast geschlossen für die Entschließung stimmten, herrschte unter den Christdemokraten geteilte Meinung. 36 Parlamentarier stimmten für die Entschließung, 50 dagegen und 22 enthielten sich (genaues Abstimmungsverhalten hier abrufbar). Für die Abänderung der Grundrechtecharta braucht es nach derzeitigem Recht allerdings auch die Zustimmung aller Mitgliedstaaten, was besonders im Hinblick auf konservativ regierte Länder wie Polen oder Malta äußerst unwahrscheinlich ist. Dieses „Problem“ möchte die Entschließung mit einem Antrag auf Überarbeitung der EU-Verträge und einer parlamentarischen Beteiligung am Änderungsprozess der GRC aus dem Weg schaffen.
Außerdem fordern die EU-Parlamentarier den US-Kongress auf, ein Gesetz, das Abtreibungen auf Bundesebene schützt, zu verabschieden. Weitere Forderungen der Entschließung sind die endgültige Entkriminalisierung von Abtreibungen und die Bekämpfung und Beseitigung rechtlicher, finanzieller, sozialer und praktischer Einschränkungen, die den Zugang zu Abtreibungsdiensten in manchen Mitgliedstaaten verhindern.
Experten: „Frauen haben etwas Besseres verdient“
Dass das Abstimmungsergebnis nicht einfach so hingenommen wird, zeigt die Reaktion etlicher Rechtsexperten. „Jede Regierung hat das Hoheitsrecht, die Schwächsten in ihrem Land zu schützen, nämlich diejenigen im Mutterleib“, betonte Adina Portaru, Senior Counsel der Menschenrechtsorganisation ADF International. Frauen hätten etwas Besseres als Abtreibung verdient. Ein Europa, das sich zu den Menschenrechten bekenne, sei eines, das sowohl das Leben der Mutter als auch jenes des ungeborenen Kindes respektiere und beschütze, so Portaru, die die Entschließung des Europäischen Parlaments als überaus ungenau und irreführend erachtet. Im Gegensatz zum Recht auf Leben des Art. 2 GRC gäbe es nämlich kein „Recht auf Abtreibung“. Der radikale Versuch, Abtreibung ohne Grenzen in Europa einzuführen, widerspreche der überwiegenden Meinung der Europäer, unterstrich Portaru mit Hinweis auf eine Umfrage in 30 EU-Ländern, nach der sechs von sieben Europäer gewisse Beschränkungen bei Abtreibungen guthießen. Auch Vincenzo Bassi, Anwalt und Präsident der Föderation katholischer Familienverbände in Europa (FAFCE), bedauert die Entschließung des EU-Parlaments, die für ihn im klaren Widerspruch zur GRC stehen. Politische Entscheidungsträger sollten sich darauf konzentrieren, die Funktion der Familie und den Wert der Mutterschaft anzuerkennen und sich den zahlreichen Barrieren widmen, auf die Paare und Familien stoßen würden. Stattdessen arbeite man an einer Wegwerfkultur, kritisiert Bassi das EU-Parlament harsch.
Warnrufe von kirchlicher Seite
Bestürzt über die Entschließung zeigte sich überdies Manuel Barrios Prieto, Generalsekretär der Kommission der EU-Bischofskonferenzen (COMECE). In einer Presseerklärung sprach er sich für mehr Unterstützung von Schwangeren in Schwierigkeiten und problematischen Lebenssituationen aus. Abtreibung liege außerhalb der Zuständigkeit des EU-Parlaments. Es solle sich daher nicht in die demokratischen Angelegenheiten der Länder einmischen. Durch die Förderung radikaler, politischer Agenden würden außerdem andere Grundrechte, wie die Religions- und Gewissensfreiheit sowie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit gefährdet. Es gelte daher, sich für mehr Einigkeit unter den Europäern einzusetzen und nicht noch mehr ideologische Barrieren zu schaffen, so Prieto.
Für Angelika Ritter-Grepl, Vorsitzende der Katholischen Frauenbewegung Österreichs (kfbö), könne es schon deshalb kein „Recht auf Abtreibung“ geben, weil die Autonomie einer Schwangeren immer „in Bezogenheit“ zum Leben und der Würde ihres Kindes zu denken sei. Hingegen sollte es sehr wohl ein „Recht auf Unterstützung und Getragen-Sein“ für jede Frau geben. Für die kfbö sei in dieser hitzigen Debatte vor allem ein „sorgsamer, am Menschen orientierter Umgang“ von Bedeutung. Es brauche jetzt vor allem eine Investition in Beratung, Begleitung, Prävention und Bewusstseinsbildung, insbesondere bei Jugendlichen und Männern, so Ritter-Grepl. Durch statistische Erhebungen zu erfolgten Abtreibungen könne man zielgerichtete Maßnahmen zur psychischen und physischen Unterstützung von Frauen setzen. Die Politik sei zudem aufgefordert, soziale Sicherheit besonders für Alleinerziehende und Familien zu gewährleisten, so Ritter-Grepl. Zudem müsse man die Möglichkeit der Adoption aus der Tabuzone holen und den Druck auf Frauen, Kinder mit Beeinträchtigungen nicht auf die Welt bringen zu dürfen, der durch die immer ausgereiftere Pränataldiagnostik zunimmt, verhindern.
Salzburger Ärzteforum spricht von politischer Manipulation
„Einer ganzen Bevölkerungsgruppe – jener der Ungeborenen – systematisch ihr Recht auf Leben und ihre Schutzbedürftigkeit radikal aberkennen zu wollen und dies als Errungenschaft im Sinne der Verteidigung der Menschenrechte umzuformulieren, ist ebenso paradox wie zynisch“, lautet eine öffentliche Stellungnahme des Salzburger Ärzteforums für das Leben zur Entschließung des EU-Parlaments. Aus der Europäischen Geschichte, die gezeigt habe, dass die systematische Tötung unschuldiger Menschen ein nicht zu rechtfertigendes Unrecht sei, das folgenschwere Auswirkungen auf Frieden und Stabilität in Gesellschaft und Staat nach sich ziehe, habe man wohl nicht gelernt. Es handle sich hier um einen „bewussten Akt ideologisch motivierter politischer Manipulation auf höchster Ebene“ und nicht um eine Mehrheitsentscheidung der EU-Bürger. Bei 780.000 Abtreibungen jährlich in der EU und einer derzeitigen Geburtenbilanz von ca. 4 Millionen ergebe sich ein Verhältnis zwischen Abtreibungen und Lebendgeburten von 1 zu 5,5. Das bedeute, dass auf 1.000 Lebendgeburten statistisch 180 Abtreibungen kommen. Eine derartig hohe Todesrate Ungeborener könne sich die EU vor dem Hintergrund einer sich permanent zuspitzenden demographischen Schieflage wohl kaum leisten. Außerdem würde man die bis dato geltende souveräne Legislativbefugnis der einzelnen Mitgliedstaaten zu Themen wie Gesundheit, Sexualerziehung, Reproduktion und Abtreibung untergraben und de facto abschaffen. Zudem sieht das Salzburger Ärzteforum bei einem „Recht auf Abtreibung“ die Gewissensfreiheit der Ärzte in Gefahr und weist darauf hin, dass eine öffentliche Finanzierung von Abtreibungen mit einem „Recht auf Abtreibung“ einherginge. Das würde wiederum bedeuten, dass alle EU-Bürger – ungeachtet ihrer religiösen und ethischen Haltung – Abtreibungen mitfinanzieren müssten, was einem „ideologischen Diktat“ gleichkäme.
Forderungen österreichischer Bundesminister
Auch die österreichische Politik schwieg nicht zum jüngsten Vorschlag des EU-Parlaments. So sprachen sich Justizministerin Alma Zadić und Gesundheitsminister Johannes Rauch kürzlich für einen niederschwelligen und kostengünstigen Zugang zum Schwangerschaftsabbruch in Österreich aus und betonten, dass die Bundesländer für notwendige Verbesserungen „in die Pflicht zu nehmen“ seien. Das Institut für Ehe und Familie berichtet >> hier darüber.
Abtreibungen unter die Aufgabe des öffentlichen Gesundheitswesens einzuordnen und sie als Teil des medizinischen Leistungsspektrums einzufordern, hält das Salzburger Ärzteforum für das Leben für gänzlich ungerechtfertigt. Aufgabe des öffentlichen Gesundheitswesens sei es nämlich, Menschenleben zu retten, Krankheiten zu heilen und zur Krankheitsprävention beizutragen. Ungeborene würden überdies nicht vom GRC-Grundrecht auf Leben ausgenommen werden und es sei daher eine ethische und juristische Verpflichtung des medizinischen Systems, das ungeborene Leben zu schützen. (TS)
Lesen Sie auch den Kommentar „Es gibt kein ‚Recht auf Abtreibung‘“ von Mag. Antonia Holewik, Leiterin der Politikabteilung am Institut für Ehe und Familie, zur Entschließung des EU-Parlaments.