EGMR verurteilt Rumänien
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INT / Gender: EGMR verurteilt Rumänien wegen Verletzung der Rechte von Transsexuellen

IEF, 01.02.2021 – Unklare Verfahren und eine geschlechtsumwandelnde Operation als Voraussetzung für Geschlechtseintragsänderung verstoßen gegen Artikel 8 EMRK.

Gerichte fordern eine geschlechtsumwandelnde Operation 

Die Kläger waren zur Zeit der Klageerhebung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Personenstandsregister als Frauen vermerkt. Beide versuchten eine Änderung ihres Geschlechtseintrags von „weiblich“ auf „männlich“ vor den nationalen Gerichten zu erwirken, wobei die als X bezeichnete Partei ärztliche Gutachten vorlegte, die das Vorhandensein einer Geschlechtsdysphorie bestätigten.

Die angerufenen rumänischen Gerichte lehnten die Anträge mit der Begründung ab, dass diese „verfrüht“ seien und forderten die Antragsteller auf, eine Bestätigung über eine geschlechtsumwandelnde Operation vorzulegen.

Ein Jahr nach Anrufung des EGMR unterzog sich einer der Kläger (Y) einer geschlechtsumwandelnden Operation und beantragte erneut eine Änderung des Geschlechtseintrags im Personenstandsregister in Rumänien, die diesmal von den Gerichten autorisiert wurde, wobei ihm ein neuer Personalausweis ausgestellt, der Vorname geändert und eine neue Identitätsnummer zugeteilt wurde. Das Gericht ordnete zudem eine Änderung im Personenstandsregister und die Ausstellung einer neuen Geburtsurkunde an.

Internationale Organisationen fordern unkomplizierte Änderung der Geschlechtsidentität

In seiner Entscheidung vom 19.01.2021 verwies der EGMR einleitend auf Empfehlungen Internationaler Organisationen, darunter des Ministerkomittees und der parlamentarischen Versammlung des Europarates, des UNO Hochkommissars für Menschenrechte und des UN-Sachverständigen für den Schutz vor Gewalt und Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität. Sie alle hätten die Staaten dazu aufgefordert, schnelle, transparente und leicht zugängliche Verfahren einzuführen, die es Betroffenen ermöglichen würden,  ihren Namen und den Geschlechtseintrag in offiziellen Dokumenten zu ändern.

Unklare Vorgaben und unvorhersehbare Verfahren  

Die nationalen Gerichte hätten im gegenständlichen Fall einerseits aufgrund detaillierter Informationen wie einer erfolgten Hormontherapie und Brustentfernung die Kläger als transgender anerkannt, andererseits hätten sie den Betroffenen eine Änderung des Geschlechtseintrags aufgrund der fehlenden geschlechtsumwandelnden Operation mit dem Hinweis verweigert, dass die Änderung aufgrund einer Selbstauskunft nicht erlaubt sei.

Der Gerichtshof hielt dazu fest, dass das nationale Recht in Rumänien kein etabliertes Verfahren zur Änderung der Geschlechtsidentität vorsehe. Die theoretische Möglichkeit, das Geschlecht vor den nationalen Gerichten ändern zu lassen, sei zwar vom rumänischen Verfassungsgerichtshof im Jahr 2008 anerkannt worden. Damit sei auch eine rechtliche Basis zur Änderung des Geschlechts in Rumänien vorhanden. Diese sei jedoch in Bezug auf die Voraussetzungen, die für eine Änderung der Geschlechtsidentität zu erfüllen seien, nach Ansicht des Gerichtshofs zu vage und unbestimmt. Der EGMR fügte dem hinzu, dass es in Rumänien in Bezug auf das Erfordernis einer geschlechtsumwandelnden Operation keine einheitliche Rechtsprechung gäbe, zumal eine Änderung der Geschlechtsidentität in einigen Fällen auch ohne der Bestätigung über eine durchgeführte Operation von Gerichten bewilligt wurde. Damit sei das Verfahren unklar und unvorhersehbar.

Mangelnde Interessenabwägung und Begründung des öffentlichen Interesses

Die nationalen Gerichte hätten dabei, nach Ansicht des EGMR, keine triftigen Gründe für das Vorliegen eines öffentlichen Interesses, das der Änderung des Geschlechtseintrags im konkreten Fall entgegenstünde, vorgebracht und auch keine adäquate Interessensabwägung zwischen einem wie auch immer gearteten öffentlichem Interesse und dem Recht der Kläger auf Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität vorgenommen.

Die Vorgehensweise der rumänischen Gerichte hätte die Kläger dadurch in einen „unzumutbar langen, schmerzlichen Zustand versetzt, der in ihnen Gefühle der Verletzlichkeit, Demütigung und Angst“ hervorrufen konnte. Die Kläger wären durch die nationalen Gerichte außerdem vor ein unlösbares Dilemma gestellt worden: durch eine geschlechtsumwandelnde Operation hätten sie entweder auf ihr Recht auf Achtung der physischen Integrität oder im umgekehrten Fall auf das Recht auf Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität verzichten müssen – beides aus Artikel 8 EMRK abgeleitete Grundrechte. Damit hätten die nationalen Gerichte keinen fairen Ausgleich zwischen dem öffentlichen Interesse und dem individuellen Interesse der Betroffenen geschaffen.

Verfahren zur Änderung der Geschlechtsidentität im Wandel

Der EGMR hob in seiner Entscheidung schließlich hervor, dass die im gegenständlichen Fall erörterten Fragestellungen einem ständigen Wandel innerhalb der Mitgliedstaaten des Europarates unterliegen, wobei immer weniger Staaten eine geschlechtsumwandelnde Operation als Voraussetzung für die Änderung der Geschlechtsidentität verlangen würden.

Aufgrund des Fehlens von klaren und vorhersehbaren Verfahren, die eine rasche, transparente und leicht zugängliche Änderung des Namens und der Geschlechtseintragung in offiziellen Dokumenten ermöglichen würden, sei im gegenständlichen Fall daher das sich aus Artikel 8 EMRK ableitende Recht der Betroffen auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens von den rumänischen Gerichten verletzt worden.

Die Situation in Österreich

Eine Änderung der Geschlechtseintragung ist in Österreich bei Vorliegen folgender von der Rechtsprechung ausgearbeiteter Kriterien möglich: Vorhandensein einer „zwanghaften“ Vorstellung im falschen Geschlecht zu leben, Vornahme geschlechtskorrigierender Maßnahmen, durch die eine deutliche Annäherung an das äußere Erscheinungsbild des anderen Geschlechts gewährleisten, hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich am Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht nichts mehr ändern wird. Eine geschlechtsumwandende Operation gehört seit der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs aus dem Jahr 2008 nicht mehr zu den Voraussetzungen einer Änderung des Geschlechtseintrags. (AH)

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