AT / Lebensende: Die Triage-Diskussion offenbart gesellschaftliche Fragestellungen
IEF, 28.04.2020 – Mit der Frage, wie knappe Ressourcen in der Gesundheitsversorgung während der Covid-19-Pandemie verteilt werden können, beschäftigen sich derzeit viele Experten.
Die Triage Diskussion im Covid-19 Kontext fördert dabei Fragestellungen zutage, die auch sonst im Gesundheits- und Gesellschaftssystem virulent sind. Durch die Pandemie könnte plötzlich der Fall eintreten, dass Leben unverhohlen nach Kriterien wie Alter, Vorerkrankungen etc. bewertet werden muss, um mit knappen Ressourcen möglichst viele Menschen zu versorgen. Die Berichte von italienischen Ärzten, die entscheiden mussten, welcher Patient an die lebensnotwendige Beatmungsmaschine angeschlossen bzw. welcher Patient abgehängt wird, damit ein anderer Patient mit besseren Heilungschancen beatmet werden kann und die damit über Leben und Tod entscheiden mussten, schockierten auch hierzulande. Infolgedessen setzten sich die Ethikkommissionen und medizinischen Fachgesellschaften mit Triage-Regeln auseinander, um im Ernstfall vorbereitet zu sein. Die Handlungsempfehlungen sollen die Ärzte in ethisch dilemmatischen Situationen entlasten, für die es kein richtig oder falsch gibt. Der Ernstfall, dass mehr intensivpflegebedürftige Patienten versorgt werden müssen als Ressourcen vorhanden sind, ist in Österreich bislang aufgrund des Lockdowns glücklicherweise nicht eingetreten.
Triage (franz. „trier“ für „aussuchen, sortieren“) bezeichnet das Verfahren zur Priorisierung medizinischer Hilfeleistung, insbesondere bei unerwartet hohem Aufkommen an Patienten und objektiv unzureichenden Ressourcen. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Militärmedizin und kam durch die Corona-Krise wieder ins Bewusstsein der Gesellschaft, als in Italien Bedarf und Angebot an intensivmedizinischer Versorgung auseinanderklafften.
Kein „first come, first serve“
Für die Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) sei eine solche Situation vergleichbar mit der Katastrophenmedizin, wobei in der Covid-19-Pandemie lebenserhaltende Ressourcen der Gesundheitsversorgung womöglich wesentlich länger gebunden sein könnten als in der Versorgung von Notfällen. In ihrer anlassbezogenen Stellungnahme gab die ÖGARI klinisch-ethische Empfehlungen für Beginn, Durchführung und Beendigung von Intensivtherapie bei Covid-19-Patienten. Im Fall einer Überlastung vorhandener Ressourcen müsste vom üblichen „first come, first serve“ Prinzip abgegangen werden und die medizinische Behandlung anhand von Triage-Regeln beurteilt werden.
Entschärfung dilemmatischer Entscheidungssituationen
In diesem Sinne äußerte sich auch die Österreichische Bioethikkommission des Bundeskanzleramts (BEK) mit einer Stellungnahme „Zum Umgang mit knappen Ressourcen in der Gesundheitsversorgung im Kontext der Covid-19-Pandemie“. Die BEK geht hier von zwei Szenarien aus. Szenario 1 – die Behandlung hat noch nicht begonnen: In dieser Situation gibt es eine begrenzte Zahl noch verfügbarer Behandlungsplätze (Intensivbetten, Beatmungsgeräte), aber eine höhere Zahl an Personen, die diese Ressourcen benötigen würden. Szenario 2: Die Behandlung hat bereits begonnen: In dieser Situation sind alle Behandlungsplätze belegt, und es kommt mindestens eine Person hinzu, die diese Ressourcen benötigen würde. Sowohl Verzichts- als auch Beendigungs-Situationen führten in unserer Gesellschaft, die sich keiner simplen utilitaristischen Nutzenmaximierung verschrieben hat, an die Grenzen ethischer Argumentationen, so die BEK. In erster Linie müsse versucht werden, „dilemmatische Entscheidungssituationen“ zu entschärfen. Wenn etwa andere Behandlungsmethoden ausreichten oder der Patient eine intensivmedizinische Behandlung ablehnte, würden Ressourcen für andere verfügbar.
Triage bleibt ein Dilemma
Sei eine Entschärfung nicht möglich, so komme es zur Triage. Dann könne die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit als maßgebliches Kriterium für Szenario 1 wie 2 der Triage herangezogen werden. Für eine Szenario-2-Triage, d. h. die Beendigung einer (Intensiv-)Therapie bei einer Person, bei der sie eigentlich indiziert wäre und die sie nicht selbst abgelehnt hat, zugunsten einer anderen Person, die eine höhere kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit hat, werde dabei Folgendes vorausgesetzt: Bei dieser anderen Person muss es sich um einen bereits konkret vorhandenen Menschen handeln, nicht um eine hypothetische Person, die vielleicht kommen wird (oder eben nicht). „Ein Dilemma bleibt die Triage in jeder Konstellation dennoch, weil die Entscheidung, auf eine indizierte lebensrettende Behandlung zugunsten einer anderen Person zu verzichten oder sie zu beenden, im Kontext der rechtsethischen Werte und rechtlichen Normen nicht gerechtfertigt werden kann, zumal Leben gegen Leben einer Abwägung nach dessen Qualität nicht zugänglich ist“, so die BEK. Angesichts dieses Dilemmas sei seitens der Gesellschaft und Rechtsgemeinschaft strafrechtlich der entschuldigende Notstand anerkannt.
„Priorisierung nicht allein aufgrund des kalendarischen Alters“
Auch der Deutsche Ethikrat riet in seiner Ad-hoc-Empfehlung „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“ in erster Linie zu Maßnahmen, um Triage-Entscheidungen zu vermeiden. Der Staat dürfe menschliches Leben nicht bewerten und deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation zu retten sei. Es brauche einheitliche Handlungsmaximen für den klinischen Ernstfall nach wohlüberlegten, begründeten und transparenten Kriterien, wie sie bereits von ersten medizinischen Fachgesellschaften erschienen seien. So legte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) am 25.03.2020 mit sechs weiteren Fachgesellschaften klinisch-ethische Empfehlungen zu „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie“ vor. Wesentlich sei, dass eine Priorisierung immer zwischen allen Patienten, die der Intensivbehandlung bedürfen, erfolgten, unabhängig davon, wo sie gerade versorgt werden würden (Notaufnahme, Allgemeinstation, Intensivstation). Außerdem sei eine Priorisierung aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes nur innerhalb der Gruppe der COVID-19-Erkrankten nicht vertretbar und allein aufgrund des kalendarischen Alters oder aufgrund sozialer Kriterien nicht zulässig. Die Priorisierungen sollten ausdrücklich nicht in der Absicht erfolgen, Menschen oder Menschenleben zu bewerten, sondern aufgrund der Verpflichtung, mit den begrenzten Ressourcen möglichst viele Patienten zu versorgen. Dabei spielten der Schweregrad der aktuellen Erkrankung sowie relevante Begleiterkrankungen eine wesentliche Rolle.
Im Gegensatz dazu hatte, wie addendum berichtet, die italienische „Gesellschaft für Anästhesie, Analgese, Reanimation und Intensivmedizin“ Anfang März ein Papier veröffentlicht, in dem stehe: „Es kann am Ende erforderlich sein, eine Altersgrenze für die Zuweisung auf die Intensivstation festzulegen.“ Man müsse Ressourcen für jene reservieren, die „größere Überlebenschancen“ hätten und bei denen „möglicherweise mehr Lebensjahre zu retten sind“. Angeblich hätten französische Fachgesellschaften ähnliche Leitfäden herausgegeben. Sowohl Italiener als auch Franzosen betonten allerdings im Nachhinein, dass das Alter nur eines von mehreren Faktoren sein dürfe.
Rechtliche und medizinische Beurteilungen gehen auseinander
In der Triage Diskussion gibt es unterschiedliche Positionen, die u.a. im FAZ Beitrag „Dilemma der Triage – Rückhalt für Ärzte“ diskutiert werden. Es zeigt sich, dass die rechtliche und medizinische Beurteilung von Triage keinen gleichen Nenner finden kann. Aber auch fachgleiche Experten kommen zu unterschiedlichen Einschätzungen. Der emeritierte deutsche Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie und Mitglied des Deutschen Ethikrats, Reinhard Merkel, vertritt beispielsweise die Meinung, dass es rechtlich nicht möglich sei, die Behandlung eines Patienten zugunsten eines anderen Patienten mit besserer kurzfristiger Überlebenschance abzubrechen. In einem Interview mit der Presse (Premiumartikel) auf Merkels Position angesprochen erläutert wiederum die Professorin für Zivilrecht an der Uni Wien und Mitglied der österreichischen Bioethikkommission, Christiane Wendehorst, dass das Abhängen von der Maschine in Deutschland als rechtswidrig angesehen werde, allerdings ein entschuldigender Notstand vorliege. In Österreich werde davon ausgegangen, dass das gleiche Vorgehen bei höherer kurzfristiger Überlebenswahrscheinlichkeit des zweiten Patienten nicht rechtswidrig sei. „Generell muss man sagen, dass bei der Abgrenzung zwischen erlaubt und verboten auch in der Sterbehilfedebatte nicht mehr so sehr auf die Unterscheidung zwischen aktivem Tun und Unterlassen abgestellt wird, sondern auf andere Kriterien wie die medizinische Indikation. Insofern macht es mit Blick auf die Überlebenswahrscheinlichkeit keinen Unterschied, ob eine Behandlung nicht begonnen oder ob sie beendet wird“, so Wendehorst.
Während der Jurist Merkel „utilitaristische Ethiken“ für rechtlich unzulässig hält, betonen medizinische Experten wie Axel Heller, Barbara Schubert und Ulrich Schuler im o.g. FAZ Artikel, dass gerade die Evidenzbasierung eine wesentliche Grundlage der modernen Medizin sei und diese im Wesentlichen als utilitaristisch zu betrachten sei. In randomisierten Studien werde mit großen Fallzahlen geklärt, ob Nutzen und Risiken einer Therapie in einem vernünftigen Verhältnis stünden. Daher verwehren sich die Autoren gegen eine pauschale Diffamierung utilitaristischer Ansätze. „Was uns auch stört, ist der letztlich despektierliche Umgang mit dem Konzept des utilitaristischen Denkens“, so die Experten. Das meiste, was im Covid-19-Kontext getan und gedacht werde, sei geprägt von utilitaristischen Konzepten. Es gehe zwar nicht um die Maximierung des Nutzens, sondern um die Minimierung der Katastrophe, „was aber in unseren Augen keinen prinzipiellen Unterschied ausmacht“, so die Mediziner. Sie seien sich vielmehr sicher: „Wenn irgendetwas uns als Gesellschaft und als Nation das Fell rettet, sowohl gesundheitlich als auch wirtschaftlich und in unserem konfliktarmen Zusammenleben, dann ist das sehr kluges, abwägendes utilitaristisches Denken, das die deontologischen Werte im Hinterkopf hat.“
Abwägung Wirtschaft versus Gesundheit
Weiterer Diskussionen würdig scheint die Frage, inwieweit einerseits die Gesundheit der Covid-19-Risikogruppen gegenüber dem wirtschaftlichen und sozialen Wohlergehen der übrigen Gesellschaft gerechtfertigt sei. Der Leiter der Allgemeinmedizin an der MedUni Wien, Andreas Sönnichsen, hält es „für irre, was wir da machen“. „Alles was wir tun, machen wir, um die wenigen, die es betreffen könnte, zu schützen. Dafür wird der gesamte Staat lahmgelegt.“ Es müsse hinterfragt werden, was das Ergebnis der intensivmedizinischen Behandlung eigentlich sei. „Über 60 Prozent sterben – trotzdem. Und wie viele von den 40 Prozent, die überleben, hätten vielleicht auch ohne Intensivstation überlebt? Das wissen wir nicht. Und die nächste Frage: Was passiert mit jenen, die aufgrund der Intensivbehandlung überlebt haben? Sie sind danach nicht jünger und auch nicht gesünder geworden. Sie haben womöglich noch eine Schädigung ihrer Lungen durch das Coronavirus davongetragen. Das heißt: Sie alle haben ein sehr hohes Risiko, dass sie in einigen Wochen einen anderen Infekt bekommen und daran sterben. Aber dann sind sie halt nicht an Corona gestorben. Aber was haben wir letztendlich durch diese intensivmedizinische Behandlung erreicht?“
Wendehorst kontert im bereits erwähnten Interview, dass hier Rechtsgüter verschiedener Wertigkeit gegenübergestellt werden würden, was gefährlich sei. „Zumindest in Österreich geht es um Wohlstand und Arbeitsplätze versus Lebensschutz“, so die Professorin. Wendehorst nennt dabei einen wunden Punkt der gesellschaftlichen Debatte, den Sönnichsen anspricht: Wieviel ist uns das Leben alter oder kranker Menschen wert?
Humanismus versus Utilitarismus?
In einem Beitrag in der NZZ bricht Dietmar von der Pfordten, Professor für Rechts- und Sozialphilosophie an der Georg-August-Universität Göttingen, die Lanze für „konsequenten Humanismus“ (keine Aufrechnung von Leben gegen Leben oder gar von Leben gegen wirtschaftliche oder sonstige Güter) und spricht sich damit klar für den Schutz des Lebens im Covid-19-Kontext aus. Seiner Meinung nach seien die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen legitimiert, da der Staat zum Schutze jedes Einzelnen verpflichtet sei und niemanden einem vermeintlichen Gesamtwohl oder einer angeblichen Volksgesundheit opfern dürfe (kollektivistisch-utilitaristischer Ansatz). Der nach humanistischen Grundsätzen handelnde Staat müsse deshalb zum Schutz jedes einzelnen Menschen versuchen, das individuelle Infektionsrisiko so weit als möglich zu verringern, so von der Pfordten. Er meint: „Die vorübergehende Beschränkung des sozialen Kontakts oder der wirtschaftlichen Betätigung sind eindeutig weniger gravierend als eine schwere oder tödliche Lungenentzündung durch das Coronavirus.“
Generationenkonflikt: #BoomerRemover
Eine weitere Dimension der gesellschaftlichen Abgründe, die aufgrund Covid-19 sichtbar geworden sei, will der Journalist Karl-Peter Schwarz in seiner Meinungskolumne der Presse benennen. Der Schutz der vulnerablen Personengruppen, der eklatante wirtschaftliche Folgen nach sich ziehe, rufe heftige Gegenreaktionen hervor. So finden sich unter dem Hashtag #BoomerRemover auf Twitter brutale Postings von Personen, die sich darüber freuen, dass das Virus eine Arbeit erledige, die in den Seniziden („Tötung der Alten“) Jahrtausende lang in Handarbeit verrichtet worden sei. Die „Wut“ richte sich hier gegen die „Babyboomer“, die geburtenreichen Jahrgänge von 1946 bis 1964, deren Großteil mittlerweile in Rente ist und die den Großteil der Corona-Risikogruppe ausmachten. Die erheblichen Kosten für die Versorgung der Babyboomer lasteten auf den Schultern der heute Berufstätigen, deren Versorgungsbereitschaft teilweise bröckle. „Eine Generation, die einst mit dem Slogan ‚Trau keinem über 30‘ gefahrlos gegen ihre Väter und Großväter rebelliert hatte, ist selbst zur Zielscheibe des generationellen Hasses geworden“, so Schwarz. Gleichzeitig treffe der Hass nun auch genau jene Generation so Schwarz, „die als erste die Familie abschaffen wollte, die die Abtreibung für ein Recht und die Sterbehilfe für einen akzeptablen „stillen Senizid“ hält.“ (TSG)