DE / Reproduktionsmedizin: Leopoldina – Wissenschaft oder Politik
IEF, 04.06.2021 – Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und die Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften fordern – wieder einmal – die Freigabe der Forschung an menschlichen Embryonen.
Leopoldina: Ohne Embryonen wenig wissenschaftlicher Fortschritt
In ihrer Ende Mai veröffentlichten Stellungnahme „Neubewertung des Schutzes von In-vitro-Embryonen in Deutschland“ fordern die beiden Forschungsverbände eine Freigabe der menschlichen Embryonenforschung im frühen Entwicklungsstadium, die bisher in Deutschland verboten ist. Zur Aufklärung von „Fragen von allgemeiner gesellschaftlicher Relevanz“, wie etwa jener wie mithilfe von Stammzelllinien Volkskrankheiten wie Diabetes, Arthrose, Herzinfarkt oder Schlaganfall behandelt werden könnten, hätten deutsche Wissenschaftler aus Biologie und Medizin bisher „wenig beitragen“ können, da die Forschung mit frühen menschlichen Embryonen durch das 1990 verabschiedete Embryonenschutzgesetz verboten sei, heißt es in der Einleitung zur Stellungnahme.
Leopoldina bezieht Stellung zu ethischem Thema
Die „ethische und rechtliche Maximalposition“ schreibe dem Embryo ab Befruchtung der Eizelle einen „vollen moralischen Status“ zu. In ihrem Schreiben verneinen die deutschen Wissenschaftler die Überzeugungskraft des Potenzialitätsarguments mit dem Hinweis, dass ihm „die Anschlussfähigkeit an andere ethische Begründungen fehlt“. Alleine die Möglichkeit der Entwicklung des Embryos reiche aus ihrer Sicht nicht aus, um Schutzansprüche abzuleiten, sei doch die „tatsächliche Realisierung des Potenzials“ von einer befruchteten Eizelle hin zu einem geborenen Menschen an „zahlreiche Voraussetzungen geknüpft“ und „könne in vielerlei Hinsicht beeinflusst werden“. Für viele überzeugender sei das „Konzept eines abgestuften Embryonenschutzes, nach dem der Schutz des Embryos mit dem Grad seiner Entwicklung zunimmt“.
Wissenschaftler fordern „politischen Konsens“
Aufgrund der Pluralität an Meinungen in diesem Gebiet habe es bisher keine ethische Lösung des Problems gegeben – nach Meinung der Naturwissenschaftler sei diese nun „auf einer anderen Ebene“ zu suchen und zwar in Form eines politischen Kompromisses. Fortan sollte nicht die „restriktivste Position den Maßstab rechtlicher Regelungen bilden“, sondern „es sollte den Betroffenen innerhalb gewisser Grenzen ein Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum eingeräumt werden“.
„Hochrangige Forschungsziele“
Seitens der Leopoldina und der Union der deutschen Wissenschaftsakademie werde daher empfohlen, „die Zulässigkeit der Forschung an Embryonen für hochrangige Forschungsziele“ in Deutschland neu zu diskutieren, „da es nach internationaler wissenschaftlicher Auffassung eine Reihe wichtiger Fragen gibt, die wissenschaftlich nur mithilfe der Embryonenforschung bearbeitet werden können“. Auch im Bereich der Fortpflanzungsmedizin könne eine solche Forschung wissenschaftlichen Fortschritt begünstigen und etwa dazu beitragen, Unfruchtbarkeit besser zu behandeln, so die Wissenschaftler.
„Übriggebliebene“ Embryonen nach In-vitro-Fertilisation
Geforscht werden soll – geht es nach den Wissenschaftlern der Leopoldina sowie jenen der Union der deutschen Wissenschaftsakademie – künftig an „sogenannten überzähligen Embryonen“, also jenen, die im Rahmen einer fortpflanzungsmedizinischen Behandlung entstanden sind, aber „nicht mehr verwendet werden“, da „beispielsweise die Familienplanung abgeschlossen ist“. Bislang könnten solche Embryonen nur „verworfen werden“, oder für andere Paare gespendet, nicht aber „für hochrangige Forschungsziele“ zur Verfügung gestellt werden, „die dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn im Rahmen der Grundlagenforschung und der Erweiterung medizinischer Kenntnisse bei der Entwicklung diagnostischer, präventiver oder therapeutischer Verfahren dienen“. Ein eigens geschaffenes Gremium solle eingerichtet werden, das die Hochrangigkeit jener Forschungsprojekte überprüfe, im Rahmen derer Forschung an Embryonen betrieben werden soll, fordern die Wissenschaftler. Auch ein „gesetzliches Regelwerk“ solle von diesem Gremium erarbeitet werden. Etwa könnte dann eine Bundesbehörde im Zusammenwirken mit einer Ethikkommission im Einzelfall über die Zulässigkeit eines Vorhabens entscheiden, ähnlich wie es im Bereich der Stammzellforschung durch Zusammenarbeit des Robert Koch-Instituts und der Zentralen Ethikkommission für Stammzellforschung (ZES) bereits geschieht, heißt es in der Stellungnahme. Leopoldina und Akademienunion führen in ihrer Empfehlung bereits jene Forschungsziele an, die aus ihrer Sicht als „hochrangig“ anzusehen wären, etwa jene im Bereich der Embryonalentwicklung, Krankheitsentstehung, Fortpflanzungsmedizin oder Anwendungen von embryonalen Stammzellen für regenerative und personalisierte Therapien. Die Entscheidung, an welchen „übriggebliebenen“ Embryonen geforscht werden dürfe, soll nach Ansicht des Wissenschaftsverbandes dem Paar obliegen, von denen sie stammen. Eine entsprechende Beratung sei im Vorfeld vorzusehen.
Deutlich weitergehende Forderungen
Bemerkenswert ist, dass neben der Forderung, die Forschung an in-vitro entstandenen Embryonen freizugeben, aktuell zudem die „Berücksichtigung sich abzeichnender wissenschaftlicher Entwicklungen“ gefordert wird, etwa „die Herstellung embryoähnlicher Strukturen („Embryoide“)“, also jener künstlich erzeugten Embryonen, die etwa aus in-vitro hergestellten Keimzellen entstanden sind. Auch einbezogen werden sollten die Diskussionen über eine „Kultivierung und Erforschung fortgeschrittenerer Embryonalstadien über den bislang üblichen Zeitraum von 14 Tagen hinaus“. Zudem sollen „gesetzliche Überprüfungs- und Berichtsfristen“ vorgesehen werden, um auf neue Entwicklungen reagieren zu können.
Markt für Forschung an Embryonen
Wie die Zeit berichtet, ist in Ländern wie etwa Israel, Dänemark, Schweden, Großbritannien, den USA und Japan die Forschung an frühen menschlichen Embryonen, die nicht mehr für die Fortpflanzung benötigt werden, bereits erlaubt. Deutschland habe in der Vergangenheit die Embryonenforschung zwar häufig als moralisch fragwürdig abgelehnt, auf die Ergebnisse aus dem Ausland aber dennoch zugegriffen. Ein solches Vorgehen sei „aus ethischer Sicht fragwürdig und wird von vielen Seiten kritisiert“, betonen die Forscher.
Kritik: Einseitige kleine Arbeitsgruppe betreibt Politik statt Wissenschaft
IMABE verweist in seinem Bericht zur neuen Stellungnahme des Wissenschaftsverbundes auf die von Peter Dabrock, bis 2020 Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, in einem Interview mit Deutschlandfunkkultur geäußerte Kritik an dem Vorpreschen. Das Präsidium der Leopoldina habe eine kleine Arbeitsgruppe in dieser Frage eingesetzt, deren Zusammensetzung unausgewogen gewesen sei, so der evangelische Theologe Dabrock. Wichtig aber wäre ein breiter Diskurs unter den rund 1.400 Mitgliedern der Leopoldina. Der Theologe an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg kritisiert zudem, dass sich die kleine Arbeitsgruppe bei dieser „hochgradig weltanschaulich kontaminierten Frage“ als die eine maßgebliche Stimme der Wissenschaft ausgebe. „Ich sehe zum Beispiel niemanden in der Gruppe – und Klammer auf noch mal, ich selbst vertrete die Position der Arbeitsgruppe –, aber ich sehe niemanden in der Arbeitsgruppe, der eine andere Position als diese embryonenforschungsfreundliche Position vertritt. Und ich finde, das gehört sich einfach nicht für die Wissenschaft, die eben auch hier an der Grenze zur Weltanschauung argumentiert, dass die Vielfalt der Gesellschaft, die sie selber einfordert, die Arbeitsgruppe nicht repräsentiert. Das ist ärgerlich.“, so Dabrock.
Nach Ansicht Dabrocks seien als Mitglieder der Arbeitsgruppe zudem genau jene Wissenschaftler ausgewählt worden, die „seit 20 Jahren dasselbe fordern“. Die Leopoldina sei bereits im vergangenen Jahr aufgrund ihrer Stellungnahmen zur Corona-Krise in Kritik geraten, da sie erkennbar Wissenschaftspolitik und Biopolitik betrieben habe, „statt einfach nur Wissenschaft zu sein“, betont der Ethiker, „dass sie hier noch mal auf dieses Pferd setzt, da glaube ich – und ich bin natürlich sehr wissenschaftsaffin, bin selbst Mitglied in einer deutschen Wissenschaftsakademie, die übrigens nicht mitgemacht hat –, dass hier wertvolles Vertrauen in die Wissenschaft verspielt wird“.
Merckens: „Alter Hut mit fatalem Aufputz“
Auch Stephanie Merckens vom Institut für Ehe und Familie sieht die Rolle der Wissenschaftsakademien in dieser Stellungnahme kritisch: „Die Leopoldina leistet ihrem Selbstverständnis nach wissenschaftsbasierte Politikberatung, will nur Handlungsoptionen aufzeigen, nach denen die Politik dann entscheiden soll. Ich frage mich, wie sich das mit dem Inhalt der nun veröffentlichten Stellungnahme vereinbaren lässt. Und wenn von den Wissenschaftlern der Leopoldina behauptet wird, dass ‚ergebnisoffen‘ gearbeitet wird, wie kann es dann sein, dass in einen ethisch so heiklen Bereich nur eine kleine Gruppe von Experten berufen waren, die bekanntermaßen alle eine ähnliche Sichtweise vertreten“, so die Juristin. Zudem sei kaum etwas neu – weder die ethischen Erwägungen, noch die angebliche wissenschaftliche Dringlichkeit. Als „more of the same“ sei daher der Vorstoß zu werten, wonach bereits jetzt eine Zulässigkeit der Forschung an bis zu 28 Tage alten Embryonen befürwortet und mehr noch, die Herstellung künstlich erzeugter Embryonen zu Forschungszwecken angedacht werden soll. „Daran ist nichts neu, vielmehr wird in dieselbe gedankliche Presche geschlagen wie bisher. Und die ist fatal.“, so Merckens. „Für die Vertreter dieser Richtung geht es in Wahrheit nicht um eine Abwägung verschiedener Rechtspositionen. Vielmehr hat der Mensch im embryonalen Stadium für sie überhaupt keinen Stellenwert – außer als Material für die Forschung. Geködert wird mit der Hoffnung auf Behandlungsmethoden für sogenannte Volkskrankheiten. Das ist irreführend – genauso wie das Argument, man könne so die Fortpflanzungsmedizin ‚verbessern‘. Dabei führt die Fortpflanzungsmedizin bekanntermaßen selbst zu erhöhten Risiken für Mütter und auf diese Weise geborene Kinder.“
Kummer: Embryo ist keine Sache und kein Heilmittel
IMABE-Geschäftsführerin Susanne Kummer wiederum verweist auf eine weitere ethische Scheinheiligkeit in der Argumentation: „Wenn man im Zuge der künstlichen Befruchtung mehrere Embryonen auf Vorrat erzeugt und vorab einkalkuliert, dass einige davon übrigbleiben werden, schafft man ethische Probleme, die nicht mehr sinnvoll aufzulösen sind. Der Embryo ist keine Sache und kein Heilmittel. Im Embryo wächst nicht „ein Leben“ heran, sondern jemand wächst heran.“
ALfA: Keine Studien zu Therapieerfolg durch embryonale Zellen
Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) ruft zudem in Erinnerung, dass es bisher keine einzige Studie gebe, die einen Therapieerfolg mit menschlichen embryonalen Zellen nachweisen konnte. Längst hätten daher ethisch unbedenkliche iPS (induzierte pluripotente Stammzellen) den menschlichen embryonalen Stammzellen in der Forschung den Rang abgelaufen. Seit über dreißig Jahren werde weltweit mit embryonalen Stammzellen geforscht, mit genau den Heilsversprechen, die auch die Leopoldina jetzt zur Begründung ihrer Forderung nach Nutzbarmachung der Embryonen aus der Schublade ziehe, so die Bundesvorsitzende Cornelia Kaminski.
Die neu veröffentlichte Stellungnahme reiht sich an jene der Leopoldina aus dem Jahr 2019 an – das IEF hat berichtet. In einem damaligen Vorstoß hatten die Wissenschaftler weitreichende Änderungen hinsichtlich der Zulässigkeit von Elective-Single-Embryo-Transfer, Eizellspende, Embryospende an andere Paare, Leihmutterschaft sowie betreffend die Erstattung von Kosten für fortpflanzungsmedizinische Maßnahmen gefordert. (KL)