DE / Reproduktionsmedizin: Erstes deutsches Retortenbaby wird 40
IEF, 25.04.2022 – Als das erste Retortenbaby auf die Welt kam, existierten weder rechtliche Rahmenbedingungen noch waren die Risiken der künstlichen Befruchtung bekannt.
Hunderttausende Kinder in 40 Jahren
Die Eltern des OIiver W., der am 16.04.1982 per Kaiserschnitt im Universitätsklinikum Erlangen auf die Welt kam, „konnten ihr Glück nicht fassen“. Ohne medizinische Behandlung hätten sie laut Medienberichten „keine Chance auf ein eigenes Kind“ gehabt. So begaben sie sich in die Obhut des Reproduktionsmediziners Siegfried Trottnow, der die künstliche Befruchtung durchführte und auf dessen Konto die Geburt des ersten außerhalb des Mutterleibes gezeugten Kindes in Deutschland und des siebten weltweit zu verbuchen ist. Wenige Tage nach der Geburt gab Trottnow bei einer Pressekonferenz bekannt, dass er davon ausgehe, „dass für diese Art der Behandlung eine große Nachfrage existiert“. Es gebe nun „Hoffnung“ für die „überwiegende Zahl der Frauen“, die „bisher absolut unbehandelbar“ gewesen seien. Dass eine große Nachfrage bestand, bewahrheitete sich und so sind seither allein in Deutschland hunderttausende Kinder zur Welt gekommen, die durch künstliche Befruchtung gezeugt wurden.
Skepsis aus eigenen Reihen
Denise Lehner-Renken, die wissenschaftlich zum Thema forscht, erläutert, dass es unter Medizinern Vorbehalte gegen die neue Technologie gegeben habe. Viele Kollegen hätten künstliche Befruchtung als Menschenversuch gewertet und skeptisch betrachtet. Schließlich habe es sich nicht um die Heilung einer Krankheit gehandelt, sondern darum, neues Leben zu schaffen. Moralische und ethische Fragen seien im Zentrum gestanden. So trafen sich Trottnow und andere Reproduktionsmediziner kurz nach Olivers Geburt mit Theologen und anderen Medizinern und lobbyierten für die neue medizinische Disziplin. Bei einem Kongress in Nürnberg sei man etwa zum Konsens gekommen, dass nur Ehepaare durch künstliche Befruchtung ihren Kinderwunsch realisieren sollten. Außerdem wollten die Wissenschaftler die künstliche Befruchtung als möglichst natürlichen Vorgang verstanden wissen. Fragen, wie „Wann beginnt das Leben des Embryos?“, „Was passiert mit nicht verwendeten Embryonen?“, seien elementare Fragen gewesen, die teilweise bis dahin gar nicht oder nicht in dieser Präzision geklärt worden waren. Für die Reproduktionspioniere stellte die In-Vitro-Fertilisation (IVF) eine Möglichkeit dar, sich innerhalb ihrer Fachdisziplin und darüber hinaus eine einzigartige wissenschaftliche Reputation zu verschaffen, erklärt Lehner-Renken die Hintergründe. „Die IVF bot die Chance, etwas medizinisch Außergewöhnliches zu schaffen, das wenige Jahre zuvor noch von vielen für unmöglich gehalten wurde.“
Rechtliche Rahmenbedingungen mussten erst geschaffen werden
Als Oliver zur Welt kam, war die Reproduktionsmedizin ein weitgehend rechtsfreier Raum. Der rechtliche Rahmen für die Reproduktionsmedizin wurde in Deutschland durch das Embryonenschutzgesetz 1990 markiert. Laut diesem dürfen bis heute nur so viele Embryonen gezeugt werden, wie der Frau eingesetzt werden können. Die Herstellung oder Weiterverwendung von Embryonen zu Forschungszwecken ist verboten.
Ein weiterer gänzlich ungeregelter Bereich war die Samenspende. Jan-Steffen Krüssel, Leiter eines Kinderwunschzentrums in Düsseldorf, berichtet, dass zu Beginn der reproduktionsmedizinischen Tätigkeiten die Befruchtung der Eizellen mit dem Spermium des behandelnden Arztes nicht unüblich war – auch um die Erfolgsquote durch entsprechende Spermienqualität zu steigern. Gegen solche Praktiken hätte sich die deutsche Ärztekammer später dezidiert gestellt. Wie das Institut für Ehe und Familie (IEF) berichtete, geriet vor wenigen Jahren ein österreichischer Arzt wegen ungeklärter Herkunft der Spermien in die Schlagzeilen.
Kinderwunsch versus Kinderwohl
Mit der Thematik der Samenspende beschäftigt sich der deutsche Verein Spenderkinder und dokumentiert seit 2009 Verwandtschaftsgrade von Personen, die durch anonyme Samenspende gezeugt wurden. Die Sicht der betroffenen Kinder werde oft vernachlässigt, da sie im öffentlichen Bild vor allem als niedliche Babys vorkämen, die von Erwachsenen mit unerfülltem Kinderwunsch sehnlichst gewollt seien. Alles technisch Machbare scheine gerechtfertigt, um diesen Wunsch zu erfüllen, so der Verein.
„Dabei wird oft übersehen, dass auch diese Babys Würde und Rechte haben und insbesondere zu Erwachsenen mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen heranwachsen. Ähnlich wie auch adoptierte Menschen haben über 80 Prozent der aufgeklärten Spenderkinder ein Bedürfnis zu erfahren, wer ihr biologischer Vater ist.“ Obwohl mittlerweile höchstrichterlich bestätigt sei, „dass auch durch Samenspende gezeugte Menschen ein Recht auf Kenntnis ihrer Abstammung haben, sind weder die reproduktionsmedizinischen Verfahren noch die rechtlichen Rahmenbedingungen auf das Kindeswohl konzentriert“, kritisiert der Verein.
Marktentwicklung: Erfolgsfaktor Baby-Take-home-Rate
Lehner-Renken erklärt die wirtschaftliche Dynamik der Kinderwunschzentren in den frühen 1980er Jahren. Die Pioniere der Reproduktionsmedizin hätten in Labors und Technologie investiert, was durch erfolgreiche Behandlungen und zahlende Kunden zurück erwirtschaftet werden musste. Schlüsselindikator ist bis heute ist die sogenannte Baby-Take-home-Rate, die aussagt wie viele Babys pro gesamter IVF-Versuche geboren werden. Die Rechnung war und ist dabei einfach: je erfolgreicher die Aussicht auf ein Kind, desto mehr Frauen „investieren“ in eine solche Behandlung. Laut Lehner-Renken hätten die Reproduktionsmediziner deshalb versucht, diese Erfolgsraten zu beeinflussen, indem sie Patientinnen in die Programme aufgenommen hätten, die erfolgversprechend gewesen seien. „Zum Beispiel wurden Patientinnen häufig dann aufgenommen, wenn sie unter 40 waren und über 40-jährige Patientinnen erst einmal nicht, weil da die Erfolgsrate gering erschien. Dann musste das Spermiogramm des Mannes in einem bestimmten Normbereich liegen. Und andere zusätzliche Erkrankungen waren manchmal ausschlaggebend dafür, dass Patientinnen abgelehnt wurden“, so die Wissenschaftlerin.
Geschäft mit dem Kinderwunsch
Dass mit dem Kinderwunsch finanzielle Interessen verfolgt werden, kritisierten kürzlich US-Reproduktionsmediziner und Ethiker. Wie das Wiener Bioethikinstitut IMABE berichtet, wiesen der Reproduktionsmediziner Norbert Gleicher und der Bioethiker Arthur Caplan in einem wissenschaftlichen Beitrag auf die ethischen Probleme hin, die sich in der klinischen IVF-Praxis seit 2010 beobachten ließen und forderten eine offene Debatte. So würden den Frauen bzw. Paaren bei einer künstlichen Befruchtung eine wachsende Zahl von Zusatzangeboten gemacht, obwohl diese keinen Nutzen brächten. Die Autoren nannten beispielsweise die Selektion von Embryonen nach deren genetischer Untersuchung (Präimplantationsdiagnostik, PID). Diese bringe nachweislich keine Verbesserung der Baby-Take-home-Rate, ebenso wenig wie der sogenannte elektive Single-Embryo-Transfer (eSET: Dabei wird ein einzelner Embryo mit hohem Entwicklungspotential ausgewählt und anschließend in die Gebärmutter implantiert. Ziel der Methode ist es, Mehrlingsschwangerschaften zu verhindern.) Mit umstrittenen Verfahren wie dem Social Egg Freezing würden bei Frauen zudem falsche Hoffnungen auf ein Kind im hohen Alter geweckt. Der aggressive IVF-Markt habe dazu geführt, dass es weltweit zu einem Rückgang der Lebendgeburtenraten nach IVF gekommen sei, wie Gleicher, Direktor des Center of Human Reproduction in New York, bereits in früheren Studien zeigte. So sei die Baby-Take-Home-Rate heute auf den Stand der 1990er Jahre zurückgefallen. Die Forscher wiesen darauf hin, dass im Zuge der IVF-Verfahren „nahezu in industriellem Maßstab“ menschliche Embryonen produziert worden seien. Es stelle sich daher die Frage, wie Embryonen selektiert oder behalten, kryokonserviert oder frisch transferiert „und/oder entsorgt werden können“.
Schwerwiegende Risiken für Frauen
IMABE verweist auf eine weitere Studie, wonach Frauen, die durch reproduktionsmedizinische Maßnahmen schwanger geworden seien, einem höheren Risiko für Komplikationen ausgesetzt seien als auf natürlichem Weg schwanger gewordene Frauen. So litten Frauen, die nach einer In-Vitro-Fertilisation schwanger wurden, mehr als doppelt so häufig an Nierenversagen und hatten ein um 65 Prozent höheres Risiko für einen unregelmäßigen Herzschlag. Dieses Risiko bestand auch bei Frauen, die keinerlei Vorerkrankungen aufwiesen. Die Ergebnisse zeigten darüber hinaus, dass IVF-Schwangerschaften eher mit einer lebensgefährlichen Plazentaablösung sowie Kaiserschnitt- und Frühgeburten in Verbindung gebracht werden als nach einer natürlichen Empfängnis. Frauen, die eine assistierte Reproduktionstechnologie in Betracht ziehen, sollten daher umfassend über die damit verbundenen Schwangerschafts- und Gefäßkomplikationen beraten werden, fordert IMABE.
Gesundheitsgefahren für künstlich gezeugte Kinder
Wie das IEF berichtete, haben in den vergangenen Jahren mehrere Studien für Aufsehen gesorgt, da sie ein wesentlich erhöhtes gesundheitliches Risiko für künstlich gezeugte Kinder erkannt hatten. So konnte festgestellt werden, dass die Gefäße von künstlich gezeugten Kindern vorzeitig gealtert waren. Verschiedene Ultraschallmessungen hätten ergeben, dass ihre Blutgefäße steifer waren und größere Schwierigkeiten hatten, sich bei Sauerstoffbedarf und durch Medikamentengabe zu weiten, als bei natürlich entstandenen Kindern. Außerdem wären gewisse Schichten der Gefäßwand dicker gewesen als bei Kontrollprobanden, möglicherweise ein Zeichen für eine beginnende Gefäßverkalkung. (TSG)