DE / Pränataldiagnostik: Umstrittene Screening-Tests künftig Kassenleistung
IEF, 04.07.2022 – Die umstrittenen nicht-invasiven Bluttests auf Trisomie 13, 18 und 21 werden in Zukunft von den Kassen gezahlt.
Obwohl die nicht-invasiven Pränataltests (NIPT) nicht zu den allgemein empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen Schwangerer zählen, werden diese in Zukunft laut ärzteblatt.de für alle Schwangeren eine Kassenleistung sein. Jahrelange ethische und politische Diskussionen waren der Entscheidung vorausgegangen. Die hohe Rate an falsch-positiven Ergebnissen wird dabei nicht ausreichend kommuniziert.
Risikobewertung, kein Diagnoseverfahren
Der nicht-invasive Pränataltest kann anhand einer Blutprobe bereits ab der 10. Schwangerschaftswoche Trisomien 13, 18 und 21 sowie das Geschlecht feststellen. Es handelt sich dabei allerdings nur um ein Screeningverfahren, dessen positive Ergebnisse durch ein invasives Diagnoseverfahren (Amniozentese, Plazenta- oder Choriozottenbiopsie) überprüft werden müssen. Da die invasiven Diagnoseverfahren das Risiko einer Fehlgeburt bergen, wurde der NIPT, der seit rund zehn Jahren auf dem Markt ist, anfänglich als risikolose Alternative zu invasiven Verfahren gesehen, um Behinderungen festzustellen. Da in den meisten (westlichen) Ländern Abtreibungen innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate ohne Angabe von Gründen straffrei möglich sind, bestand seitens Pro-Life von Anfang an die Sorge, dass Frauen mit (falsch) positiven Testergebnissen ohne diagnostische Abklärung des Ergebnisses ihre Kinder abtreiben könnten. Zahlen darüber gibt es nicht, da die Schwangerschaftsabbrüche ohne Angabe von Gründen möglich sind. Die Geburtenzahlen von Kindern mit Trisomie 21 sind jedenfalls seit der Ausweitung pränataler Untersuchungen in den letzten zwei Jahrzehnten eklatant gesunken. Schätzungen zufolge werden neun von zehn Kindern mit Down-Syndrom abgetrieben.
Seit 2019 wurde der NIPT in Deutschland bei Risikoschwangerschaften von der Kasse übernommen. Durch die Kassenübernahme der NIPT bei allen Schwangeren werde die Inanspruchnahme der Tests weiter steigen, wie dies bereits durch die kontinuierlich sinkenden Kosten bemerkt werden konnte, ist sich Dr. med. Kalus Doubek, Präsident des Berufsverbands der Frauenärzte, sicher.
Hohe Fehlerquote
Fatal ist die hohe Fehlerquote bei falsch-positiven Ergebnissen des NIPT bei jüngeren Frauen. „Das tatsächliche Risiko wird in der Öffentlichkeit und auch von Herstellern oft nicht realistisch kommuniziert“, kritisiert Alexander Weichert, Perinatalmediziner der Charité Berlin. Viele Schwangere würden den Bluttest als Alternative zu Ultraschalluntersuchungen verstehen, obwohl weit mehr als nur das Trisomierisiko untersucht werde, berichtet der Ultraschallexperte. „Seitdem der NIPT immer günstiger wird, erleben wir zudem regelmäßig schwangere Frauen, die einen NIPT ohne humangenetische Beratung über die Aussagekraft und Limitationen und ohne differenzierten vorherigen Ultraschall haben durchführen lassen.“ Weichert plädiert daher dafür, beim NIPT Schwangeren auch den prävalenzabhängigen Vorhersagewert zu vermitteln. Für eine 20 Jahre alte schwangere Frau liege die Wahrscheinlichkeit, ein Kind mit Trisomie 18 zu bekommen, bei 1 zu 4.584. Bei einem positiven Test auf Trisomie 18 liege die Wahrscheinlichkeit, dass das Testergebnis richtig-positiv ist, bei 14 Prozent (PPV: positiv prädiktiver Wert), für Trisomie 13 sogar bei nur 6 Prozent. Bei einem positiven Test auf Trisomie 21 bei einer Frau mit 20 Jahren liege die Wahrscheinlichkeit, dass das Testergebnis richtig-positiv ist, bei nur 48 Prozent (PPV). Sei das Testergebnis negativ, sei es mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 99 Prozent tatsächlich korrekt. Gerade für NIPT sei daher der prävalenzabhängige Vorhersagewert ein wichtiger Parameter für die genetische Beratung von Schwangeren, da er aufzeige, wie zuverlässig ein negatives oder positives Testergebnis sei.
Zudem ist Weichert der Ansicht, dass ausschließlich Experten die komplexen Ergebnisse des nichtinvasiven Pränataltests vermitteln sollten. Eine gute Aufklärung über das tatsächliche Risiko und die Aussagekraft statischer Risikowerte sei essenziell, um Kurzschlussreaktionen wie etwa einen Schwangerschaftsabbruch zu vermeiden.
Kein Test ohne ärztliche Beratung
Die NIPTs dürfen laut Vorgaben nicht ohne vorherige ärztliche Beratung durchgeführt werden. Für Doubek komme der Aufklärung und genetischen Beratung bei vorgeburtlichen Untersuchungen eine besondere Bedeutung zu. Im Vergleich zur Aufklärung bei invasiven Verfahren würden sich die Frauenärzte jedoch mit einer „komplett neuen Situation“ auseinandersetzen müssen. Subjektive Angst oder Sorge reichten künftig als Indikationsstellung zur Durchführung des NIPT aus, merkt Doubek an. „Dies ist eine Abkehr von bisher geübten Verfahren zur Durchführung einer invasiven Pränataldiagnostik.“ Denn bei pränatalen Bluttests handle es sich um eine neue Indikationsstellung mit einer von der Schwangeren individuell erlebten Risikokonstellation. „Das ist ein tiefgreifender Paradigmenwechsel.“ Eine medizinische Heilbehandlung setzt grundsätzlich eine Indikation voraus. War bislang ein ärztlich bestätigtes Risiko als Indikation notwendig, damit der Pränataltest von der Krankenkasse übernommen wurde, legt jetzt die Schwangere fest, ob sie einen solchen Test machen möchte oder nicht.
Für die Aufklärung wichtig ist vor allem die Information über die hohe Fehlerquote bei Frauen bis 35 Jahre. Außerdem sollte der Schwangeren klar sein, dass es sich um ein Such- und kein Diagnoseverfahren handelt und im Falle eines positiven Ergebnisses ein invasives Verfahren zur Abklärung notwendig ist. Darüber hinaus sollte der schwangeren Frau bewusst sein, dass sie das Recht auf Nichtwissen hat. Dieses betrifft auch andere pränatale Diagnoseverfahren. Ergänzend sollte die Frau bereits vor der Durchführung des Bluttests auf Unterstützungsangebote für das Leben mit Kindern mit Behinderungen und psychosoziale Beratungsangebote erhalten, wie etwa der Berufsverband der niedergelassenen Pränatalmediziner forderte (das IEF hatte berichtet).
UN: Negative Stereotype abschaffen
Wie das IEF auch berichtete, wird die Abwertung von Menschen mit Behinderung durch selektive Pränatalscreenings immer wieder von Behindertenverbänden kritisiert. So rügte der zuständige UN-Behindertenausschuss Frankreich in Bezug auf pränatale genetische Screenings. Stattdessen forderte er Frankreich auf, Strategien zur Beseitigung negativer Stereotype, die Menschen mit Behinderungen diskriminieren, umzusetzen.
Zunahme pränataler Screenings: „Hauptsache gesund!“?
Weltweit nehmen pränatale Screenings zu, um den Wunsch nach einem „gesunden Kind“ zu verwirklichen. Kürzlich versprach ein Team von US-Wissenschaftlern, mit dem NIPT-Test noch viele weitere Krankheiten feststellen zu können. Tatsächlich liege die Fehlerquote bei seltenen Krankheiten bei bis zu 85 Prozent, warnten daraufhin verschiedene Gynäkologen. Wie auch bei Trisomie 13, 18, und 21 kann eine Diagnose erst nach invasiven Untersuchungen gestellt werden. Doch allein das Ergebnis der Screenings kann Schwangere beträchtlich verunsichern und bedrängen. Abgesehen von den Frauen, die eventuell ohne weitere Abklärung ihr Kind abtreiben, berichten viele andere Schwangere von großen Ängsten und Sorgen, die durch das falsch-positive Ergebnis des NIPT hervorgerufen wurden und bis hin zu postpartalen Depressionen führten. (TSG)