CoE_RU / Ehe: Alle Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention müssen künftig rechtliche Rahmenbedingungen für homosexuelle Paare schaffen
IEF, 30.01.2023 – Die Verweigerung der rechtlichen Anerkennung homosexueller Paare verletze laut EGMR das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.
Am 17.01.2023 veröffentlichte die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) ihr Urteil im Fall Fedotova und andere vs. Russland (Nr. 40792/10). Es ist das erste Mal, dass der EGMR von einer Verpflichtung der Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ausgeht, homosexuelle Partnerschaften rechtlich anzuerkennen und zu schützen. Das Urteil hat dementsprechende Konsequenzen für jene 16 Staaten des Europarats, die homosexuelle Partnerschaften bislang nicht anerkennen (unter anderem Polen, Ukraine, Serbien, Bulgarien, Georgien). Offen sind außerdem die Auswirkungen des Urteils auf nationale Regelungen, die beispielsweise die Inanspruchnahme reproduktionsmedizinischer Methoden oder das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare betreffen. Der EGMR wollte nämlich die Frage der Diskriminierung homosexueller Paare gegenüber heterosexuellen Paaren im vorliegenden Fall nicht definieren.
Der Sachverhalt
Drei russische gleichgeschlechtliche Paare hatten zwischen 2009 und 2013 in Russland Anträge auf Anerkennung ihrer „Ehe“ gestellt, die von russischen Behörden und Gerichten abgelehnt wurden. Die zuständigen Behörden und Gerichte beriefen sich dabei auf Artikel 1 des russischen Familiengesetzes, wonach eine eheliche Verbindung nur zwischen einem Mann und einer Frau möglich ist. Daraufhin reichten die betroffenen Paare zwischen 2010 und 2014 Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Sie argumentierten, dass es ihnen unmöglich sei, ihre Partnerschaften in Russland so zu führen wie heterosexuelle Paare. Dadurch verletze Russland das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Artikel 8 EMRK sowie das Verbot der Benachteiligung gemäß Artikel 14 EMRK. Bereits am 13.07.2021 urteilte der EGMR, dass eine Verletzung des Artikel 8 EMRK vorliege, da Russland keine rechtlichen Rahmenbedingungen vorsehe, die die Beziehung der gleichgeschlechtlichen Paare rechtlich anerkennen und schützen würden. Am 12.10.2021 beantragte die russische Regierung, den Fall an die Große Kammer des EGMR zu verweisen. Der Antrag wurde am 22.11.2021 angenommen. Obwohl Russland aufgrund seines Angriffs auf die Ukraine seit 16.03.2022 vom Europarat ausgeschlossen ist und den Status als Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention aufkündigte, erklärte der EGMR seine Zuständigkeit in sämtlichen Verfahren gegen Russland aufgrund von möglichen Verletzungen der EMRK, die vor dem 16.09.2022 eingetreten sind, als gegeben.
Das Urteil
Mit einer Mehrheit von 14 zu drei kamen die Richter der Großen Kammer zum Schluss, dass Artikel 8 EMRK den Mitgliedsstaaten die Verpflichtung auferlege, einen rechtlichen Rahmen zur Anerkennung und zum Schutz homosexueller Beziehungen zu schaffen. Der EGMR stellte nicht fest, dass die Konvention die sogenannte „Homo-Ehe“ vorschreibe, sondern dass die Mitgliedstaaten Gesetze einführen müssten, die homosexuellen Paaren eine rechtliche Anerkennung ihrer Beziehung auf eine vom Gerichtshof nicht näher definierte Weise ermöglichten. Die Kammer entschied darüber hinaus, die Feststellungen auf Artikel 8 EMRK zu beschränken. Daher prüfte der Gerichtshof nicht gesondert, ob eine Diskriminierung gemäß Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 vorgelegen habe. Aus diesem Grund klärte der EGMR nicht die Frage, wie er eine mögliche Diskriminierung homosexueller Paare gegenüber heterosexuellen Paaren beispielsweise in Bezug auf reproduktionsmedizinische Maßnahmen oder Adoption in Zukunft beurteilen wird.
Die Verpflichtung gesetzliche Rahmenbedingungen für homosexuelle Paare zu schaffen, stehe laut EGMR im Einklang mit der sich entwickelnden innerstaatlichen Gesetzgebung der Mitgliedsstaaten. Der Gerichtshof stellte fest, dass die Konvention ein „lebendiges Instrument“ sei, das im Lichte der heutigen Bedingungen und der in demokratischen Staaten vorherrschenden Ideen ausgelegt werden müsse. Ein Versäumnis des Gerichtshofs, einen dynamischen und evolutionären Ansatz beizubehalten, würde die Gefahr bergen, dass er einer Reform oder Verbesserung der Konvention im Wege stehe.
Russlands Regierung hatte vorgebracht, dass die rechtliche Anerkennung homosexueller Paare keinen demokratischen Rückhalt in der russischen Gesellschaft habe. Dieses Argument wies der EGMR zurück. Es sei mit den Grundwerten der Konvention unvereinbar, die Ausübung der Rechte einer Minderheit von der Akzeptanz durch die Mehrheit abhängig zu machen.
(Teilweise) abweichende Meinungen
Richter Darian Pavli (Albanien) und Richterin Iulia Motoc (Rumänien) unterstützten die Mehrheitsmeinung, dass eine Verletzung des Artikel 8 vorliege, kritisierten aber gleichzeitig die Entscheidung der Großen Kammer, die Beschwerden in Bezug auf Artikel 14 (Verbot der Diskriminierung) nicht zu prüfen, da die Frage der Diskriminierung in engem Zusammenhang mit dem Schutz homosexueller Paare stehe.
Richter Krzysztof Wojtyczek (Polen) widersprach der Ansicht, dass eine Verletzung des Artikel 8 EMRK vorliegen würde. Der Richter kritisierte außerdem, dass seine Kollegen „gesetzgeberische Gewalt“ ausgeübt hätten, um rechtliche Regelungen zu grundlegenden gesellschaftlichen Fragen zu erlassen, obwohl dies an sich die Aufgabe eines gewählten Parlaments sei. Wojtyczek teilte nicht die Ansicht des EGMR, dass die Konvention ein „lebendiges Instrument“ sei, deren Auslegung sich an den in den Staaten vorherrschenden Ideen orientieren müsse. Er stellte klar, dass sich durch eine solche Auffassung eine wesentliche Verschiebung der Vertragsschlussbefugnis der demokratisch gewählten nationalstaatlichen Behörden hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ergebe. Insofern limitiere der EGMR die demokratische Entscheidungsfindung der Mitgliedsstaaten, so Richter Wojtyczek. (TSG)