CA_PT / Lebensende: „Leben müssen“, aber nicht (über)leben können
IEF, 20.06.2022 – Immer mehr Kanadier in prekären Situationen greifen zur „Sterbehilfe“ und Portugal nimmt den dritten Anlauf beim „Sterbehilfegesetz“.
Junge Kanadierin pausiert Antrag auf „Sterbehilfe“ nach erfolgreicher Spendenkampagne
Die Geschichte einer jungen Kanadierin scheint die Vermutung zu bestätigen, dass „Sterbehilfe“ für Betroffene oft nicht der „letzte Weg“, sondern der „einzige Ausweg“ ist. Die einunddreißig Jahre alte Denise leidet unter einer chronischen Erkrankung (MCS), bei der übliche Chemikalien, wie zum Beispiel Zigarettenrauch, starke Unverträglichkeitsreaktionen auslösen können.
Kanadier dürfen seit März 2021 medizinisch assistierte „Sterbehilfe“ (MAID) dann beantragen, wenn „unerträgliches Leid“ vorliegt (das IEF hat berichtet). Auch Denise hat „Sterbehilfe“ beantragt. Doch „unerträgliches Leid“ kann auch dann entstehen, wenn man aufgrund einer chronischen Erkrankung nicht für den eigenen Lebensunterhalt sorgen kann. Wie Denise selbst erzählt, hat sie den Antrag auf „Sterbehilfe“ „im Wesentlichen aufgrund bitterer Armut“ gestellt. Im Gespräch mit den Ärzten sei es oft um ihr Leid gegangen und weniger darum, welche Leistungen ihr helfen könnten, einen möglichst normalen Alltag zu leben.
Nachdem tausende Menschen über 65.000 US-Dollar gespendet haben (Spendenkampagne von David Fancy: Save a life with safe housing #HousingNotMAID), damit die junge Frau sich eine Unterkunft leisten kann, die ihre Symptome nicht verschlechtert, hat diese von ihrem Antrag auf „Sterbehilfe“ vorerst Abstand genommen. Sie findet nämlich den Erfolg der Spendenkampagne „überwältigend und inspirierend“.
Denises Geschichte wirft eine Frage auf, die bereits Studien, wie z.B. die Studie des National Council on Disability, in den Fokus gerückt hatten. Inwieweit sind es die finanzielle Not oder der Mangel an Pflege, mit denen Menschen mit Beeinträchtigungen oft konfrontiert sind, die den Druck erhöhen – oder vielleicht überhaupt erst schaffen – „Sterbehilfe“ zu beantragen?
In Portugal, wo das Thema „Sterbehilfe“ gerade höchstaktuell ist, wird eine Legalisierung, unter anderem, mit folgendem Argument befürwortet: das Recht auf Leben impliziere nicht, unter allen Umständen leben zu müssen. Schaut man nach Kanada scheint dieses Argument nahezu paradox. Dort bekommen Menschen wie Denise nämlich nicht die nötige Unterstützung, um leben zu können.
Dritter Anlauf in Portugal – Neuer Gesetzesentwurf zur Legalisierung der „Sterbehilfe“ angenommen
Mit 128 Ja-Stimmen, 88 Nein-Stimmen und 5 Enthaltungen hat das im Januar gewählte portugiesische Parlament am 9. Juni einen Gesetzesentwurf zur Legalisierung der „Sterbehilfe“ angenommen. Erst kurz vor der Parlamentswahl hatte Präsident Marcelo Rebelo de Sousa sein Veto für den zweiten Gesetzesentwurf eingelegt. Grund hierfür waren widersprüchliche Bezeichnungen im Entwurf und die Ausweitung des Zugangs zur „Sterbehilfe“ auf „unheilbare Krankheiten“ oder gar „schwere Krankheiten“, die im Widerspruch zur Position der portugiesischen Gesellschaft stehen würden (das IEF hat berichtet). Auch bei dem aktuellen dritten Anlauf wird ein Veto des Präsidenten nicht ausgeschlossen. (SM)