BE / Lebensende: „Verfahrensfehler“ oder Unrecht?
IEF, 07.11.2022 – Der belgische Verfassungsgerichtshof hat Teile des Euthanasiegesetzes für verfassungswidrig erklärt.
Euthanasiegesetz erlaubt seit zwanzig Jahren Tötung auf Verlangen
Der belgische Verfassungsgerichtshof hat am 20. Oktober Teile des geltenden „Gesetzes über die Sterbehilfe“ in einem Urteil für verfassungswidrig erklärt. Seit über zwanzig Jahren ist es in Belgien erlaubt, bei unerträglichen und unheilbaren physischen oder psychischen Leiden, Tötung auf Verlangen zu beantragen.
„Verfahrensrechtliche“ vs. „grundlegende“ Bedingungen
Der nun vom Verfassungsgerichtshof aufgehobene Artikel drei des Gesetzes implizierte, dass Verstöße gegen die „verfahrensrechtlichen“ Vorschriften für die legale Tötung eines Menschen gleichermaßen bestraft werden, wie Verstöße gegen die so genannten „grundlegenden“ Bedingungen, zu denen der ausdrückliche Wunsch des Patienten, unerträgliche körperliche oder psychische Qualen und eine daraus folgende aussichtslose Lage gehören. Damit drohte Ärzten bisher gleichermaßen lebenslange Haft, wenn sie jemanden ohne Zustimmung getötet hätten, wie wenn sie Fehler bürokratischer Natur gemacht hätten, z.B. beim Ausfüllen von Papieren.
Euthanasiegesetz ist „unvernünftig und verfassungswidrig“
Der belgische Gerichtshof habe, so Alex Schadenberg, Direktor von der Euthanasia Prevention Coalition (EPC), festgestellt, dass das Gesetz zu „restriktiv“ sei. Die Verletzung von Verfahrensvorschriften sollte nicht auf die gleiche Weise bestraft werden, wie der Verstoß gegen die grundlegenden Bedingungen für die Inanspruchnahme der Tötung auf Verlangen, heißt es im Urteil. Der Gerichtshof argumentiert, so BioEdge, Artikel drei des Euthanasiegesetzes sei „intuitiv unvernünftig und auch verfassungswidrig“. Er würde speziell gegen die Grundsätze der Gleichheit und Nichtdiskriminierung verstoßen, die in der belgischen Verfassung verankert seien.
Urteil des Gerichtshofs folgt einem umstrittenen Fall
Das Urteil des Gerichtshofs folgt einem umstrittenen sowie prominenten Fall über den das Institut für Ehe und Familie (IEF) in der Vergangenheit berichtet hat. Im Jahr 2009 hatte die 38-jährige Frau, Tine Nys, nach einer Trennung von ihrem Partner Tötung auf Verlangen beantragt. Zwei Monate nach Stellung des Antrags wurde bei ihr das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Nach weiteren zwei Monaten wurde ihr das tödliche Präparat verabreicht. Die Schwestern der getöteten Frau hatten Anklage gegen drei Ärzte erhoben, die in dem Verfahren involviert waren. Grund für die Klage sei gewesen, dass nach der Autismus-Diagnose nicht alles versucht worden sei, um die Frau zu behandeln.
Wie das IEF berichtete, hatte die „Kontrollkommission für aktive Sterbehilfe“ (FCEE) keine Unregelmäßigkeiten in diesem Fall gesehen. Die Staatsanwaltschaft sah allerdings Zeichen dafür, dass die Ärzte nicht alle gesetzlichen Vorgaben befolgt hätten und plädierten deswegen auf Mord durch Vergiftung. Im Falle einer Verurteilung hätte den Medizinern lebenslange Haft gedroht. Im Januar 2020 wurden die drei Mediziner in einem Gericht der Stadt Gent vom Mordvorwurf freigesprochen. Trotzdem räumte das Gericht laut BioEdge ein, dass es begründete Zweifel daran gebe, ob der Arzt, der das tödliche Präparat verabreichte, nicht doch Verfahrensvorschriften verletzt habe. Der Arzt war damit zivilrechtlichen Schadensersatzklagen (Geldstrafe) ausgesetzt.
Etwa zwei Prozent der Todesfälle in Belgien durch Tötung auf Verlangen
BioEdge beschreibt, wie sich im Laufe der letzten zwanzig Jahre in Belgien die Euthanasie „normalisiert“ habe. So seien etwa zwei Prozent aller Todesfälle darauf zurückzuführen. In den letzten Jahren hätten Ärzte erkannt, dass die Tötung auf Verlangen sie in rechtliche Schwierigkeiten bringen könnte, wie es der Fall von Tine Nys gezeigt hatte. Das belgische Verfassungsgerichtshof wolle laut BioEdge mit seinem vor kurzem veröffentlichten Urteil, Ärzte in Zukunft vor ähnlichen Klagen schützen.
„Verfahrensfehler“ oder Unrecht?
Auch macht BioEdge darauf aufmerksam, dass eine bekannte Lücke im „Sterbehilfe“-System des Landes darin bestehe, dass ein großer Teil der „Sterbehilfe“-Todesfälle nicht der Kontrollkommission für aktive Sterbehilfe (FCEE) gemeldet werde, was eigentlich gesetzlich vorgesehen wäre. Laut einer Studie würde nur circa die Hälfte der Todesfälle gemeldet werden. Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, dass Ärzte seit Jahren gegen das Euthanasiegesetz verstoßen hätten und nicht bestraft worden seien. Vor allem sei es aber bei Fällen wie dem von Tine Nys wohl reduktiv, von einem „Verfahrensfehler“ zu reden. Es gehe vielmehr darum, ob die junge Frau zu Unrecht getötet wurde. (SM)