AT / Pastoral: “Viele Engel sind gefragt – Beschützer:innen des Lebens”
Predigt von Bischof Hermann Glettler in Roppen, 26. Sept. 2022, Evangelium: Mt 18,1-14
Einleitung
„Wer ist im Himmelreich – also in der Neuordnung Gottes – der Größte?“ Das ist die erste Frage, die uns heute aus der Frohbotschaft Jesu anspringt. Wir kennen und fühlen den Stress dieser Frage nach mehr Einfluss und Macht, Ansehen und Bedeutung. Der aktuelle Krieg in der Mitte Europas ist ein drastisches Beispiel für die schier unstillbare Gier nach Macht. Die Opfer sind immer die Schwächsten in der Gesellschaft, die besonders „Vulnerablen“, wie wir heute sagen – meist Kinder, alte und pflegebedürftige Menschen, Kranke, psychisch belastete und beeinträchtigte Menschen, sozial Bedürftige und Geflüchtete. Jesus reagiert auf die Frage der Apostel mit der radikalen Umkehrung: „Wer sich so klein macht wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte.“ Groß ist in den Augen Gottes, wer nicht sich selbst, sondern Andere groß macht. Das ist die Autorität der Liebenden, die Autorität Gottes – sie zeigt sich im Wahrnehmen, Wertschätzen, Befähigen, Stärken und Schützen. Liest sich, nebenbei bemerkt, fast wie der Dienstauftrag an die Erzengel.
1. Die himmlische Anwaltschaft
Jesus begründet seinen Appell, die Kleinen „nicht zu verachten“ mit dem Hinweis: „Ihre Engel im Himmel sehen stets das Angesicht meines himmlischen Vaters“. Die himmlische Anwaltschaft begründet sich durch den Blickkontakt und die Verbundenheit mit dem lebendigen Gott. Wer die Schwächsten der Gesellschaft geringschätzt und verachtet, ihnen Ärgernis gibt, sie verführt oder missbraucht, der bekommt es mit Gott zu tun. Alles spielt sich unter dem Blick Gottes ab – ihm bleibt kein menschliches Tun verborgen, er kennt auch das, was uns innerlich wirklich bewegt und belastet. Von weltlicher Bedeutsamkeit lässt er sich nicht blenden, auch nicht von kirchlicher Machenschaft. Wie es im biblischen Text heute heißt: Die himmlischen Anwälte repräsentieren die Gefährdeten, die Kleinsten vor seinem Angesicht. Das ist Trost und Warnung zugleich. Dennoch bleibt die Frage: Warum lässt Gott so viel Gewalt an den Schwächsten zu? Auch im familiären Umfeld. Die Anzahl der Femizide in unserem Land ist erschreckend. Versagen die Beschützer? Mit Sicherheit verteidigt Gott die Freiheit des Menschen – und nimmt in Kauf, dass diese missverstanden und missbraucht wird.
Wir können das Leben wählen und es vernichten. Frei ist, wer lieben kann. Frei ist, wer sich nicht durch den Mainstream leiten lässt, sondern das eigene Herz befragt – dort gibt es ein Sensorium für die Schönheit und Verletzlichkeit des Lebens, das gerade an den Brückenmomenten, am Anfang und am Ende, am verwundbarsten ist. Ein erster Ertrag dieser Befragung: Es lässt sich nicht begründen, dass die Freiheit des ungeborenen Kindes weniger bedeutsam sei als das Freiheits- und Selbstbestimmungsrecht einer erwachsenen Person. Diesen Grundkonflikt zu benennen und gewaltfreie Lösungen vorzuschlagen, ist das Anliegen derer, die sich für Lebensschutz einsetzen. Es ist unseriös, diese Personen dafür als religiöse Fundamentalisten abzustempeln – ebenso ist jede politische Vereinnahmung der Abreibungsgegner zu verurteilen. Apropos Freiheit: Ist die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch tatsächlich „selbstbestimmt“? Studien haben gezeigt, dass ein Drittel (!) der Frauen vom Partner, von Eltern oder Anderen dazu gedrängt wird.
2. Das Leben schützen
Wovon reden wir eigentlich? Ab dem 21. Tag nach der Empfängnis schlägt im heranwachsenden Menschen ein kleines Herz – anfangs ein winziges Schläuchchen, in dem elektromagnetische Impulse eine Kontraktion stimulieren. Das Wissen um diesen frühen Herzschlag verbietet es, von einer „Zellanhäufung“ zu sprechen, die jederzeit entfernt werden kann. Niemand wünscht einer schwangeren Frau in eine Situation zu geraten, in der scheinbar nur mehr die „Not-Lösung“ eines Abbruchs der Schwangerschaft übrigbleibt. Es braucht somit viele Helfer und Helferinnen, durchaus auch irdische Engel, um strukturelle Verbesserungen zu schaffen, sodass Kinder angstfrei und ohne überbordende Sorgen zur Welt gebracht werden können. Es kann nicht sein, dass die Hauptlast der Fürsorge-Arbeit nach wie vor unentgeltlich von Frauen geleistet wird. Ein wirkliches freies Ja für das werdende Leben muss erleichtert werden! Erfreuliches Faktum: Nahezu von allen politischen Richtungen wird das Anliegen geäußert, die Zahl der Abtreibungen zu reduzieren – Aufklärung über Alternativen zum Abbruch und eine ergebnisoffene Beratung werden dabei an erster Stelle genannt.
Bei dem 1975 in Österreich in Kraft getretenen Gesetz der Fristenlösung irritiert der Ausdruck „Lösung“, weil es eine solche auf juristischer Ebene nicht geben kann und vor allem die psychischen Folgen einer Abtreibung bei weitem unterschätzt werden. Endlich umzusetzen wären die seit der Regierung Kreisky versprochenen „flankierenden Maßnahmen“: Eine statistische Erfassung der tatsächlich durchgeführten Abtreibungen, um eine seriöse Motivforschung zu ermöglichen, sowie die Verpflichtung zu einer ausreichenden Bedenkzeit zwischen Beratung und Eingriff. Wirklich schmerzhaft empfinde ich den immer noch bestehenden diskriminierenden Tatbestand, dass ein Kind mit einer diagnostizierten körperlichen Beeinträchtigung bis zur Geburt abgetrieben werden kann. Damit betreiben wir eine Selektion von scheinbar „lebensunwürdigen“ Leben, die dem Anspruch einer humanen, inklusionsbereiten Gesellschaft in keinster Weise gerecht wird. Jesus sagt im heutigen Evangelium: „Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf.“
3. „Lass uns reden!“ Miteinander ringen
Das Anliegen der Kirche ist nicht die Verschärfung von Strafandrohungen, sondern eine effektive und kompetente Hilfestellung für schwangere Frauen, die um eine gute Entscheidung ringen. Vollkommen unangebracht ist jede Form der Verurteilung von Frauen, die einen Abbruch gemacht haben. Leider sind diesbezüglich schon zu viele Verletzungen passiert. Begleitung und Seelsorge sind der erste Auftrag! Klar ist, dass es weder auf europäischer noch internationaler Rechtsgrundlage ein „Recht auf Abtreibung“ gibt – und noch weniger ein diesbezügliches „Menschenrecht“. Sehr wohl gibt es in der Charta der Menschenrechte (Art. 3) das fundamentale „Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ Schwangerschaft ist das wunderbare Heranwachsen menschlichen Lebens, auch eine Zeit starker körperlicher Belastungen, aber in keinem Fall eine Krankheit. Aus diesem Grund kann ein Abbruch auch nicht Teil der staatlich zu gewährleistenden Gesundheitsversorgung sein – es sei denn, dass die Gesundheit der Mutter ernsthaft gefährdet ist. Um auf die Diskussion in Tirol einzugehen: Ein öffentliches, von Steuergeldern finanziertes Abtreibungs-Ambulatorium lässt sich aus meiner Sich ethisch nicht begründen.
Allen seriösen Schätzungen zur Folge finden in unserem Bundesland ca. 700 bis 900 Abtreibungen jährlich statt – die meisten von einem Arzt in Innsbruck durchgeführt. Auch andere Gynäkologen könnten dies anbieten. Wir sprechen damit von einem privaten Angebot und nicht von einer öffentlichen Dienstleistung. Damit wird der gesetzlichen Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch Genüge getan und das Argument entkräftet, dass die Alternative zu kostenfrei durchgeführten Abtreibungen nur die verwerfliche Kurpfuscherei alter Zeiten sei. Aufgabe der Gesundheitspolitik ist es, das Leben in seinen verwundbarsten Phasen zu schützen. Ich vermute, dass wir große Portionen politischer und medialer Unterstützung brauchen, um das sensible Thema zu enttabuisieren. Der aktuelle Film „Lass uns reden!“, der im Frühjahr in die österreichischen Kinos kam, ist eine großartige Hilfe, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Es wird von acht Konfliktschwangerschaften berichtet und von den unterschiedlichen Erfahrungen der betroffenen Frauen.
Abschluss
Beten wir um Gottes Hilfe, seine Herzensenergie und den Beistand aller Engel, dass wir in allen Belangen einer „Kultur des Lebens“ dienen. Lassen wir uns nicht von populistischen Ansagen, Ideologien und Verhärtungen leiten, sondern vom Geist Gottes. Es liegt in seiner Kreativität, die Herzen der Menschen für gute Entscheidungen zu befähigen.