AT / Lebensende: Zu wenige Tote durch assistierten Suizid?
IEF, 20.06.2022 – Die Bilanz eines halben Jahres seit Inkrafttreten des Sterbeverfügungsgesetzes bilden 7 Aufklärungsgespräche und 2 Sterbeverfügungen.
Erste Zahlen zu assistiertem Suizid
Laut einer Anfragebeantwortung von 25. Mai durch Bundesminister Johannes Rauch hätten bis dato österreichweit sieben ärztliche Aufklärungsgespräche stattgefunden und es seien zwei Sterbeverfügungen errichtet worden. Zugleich seien bei der Patientenanwaltschaft 174 Anfragen „im Kontext des Sterbeverfügungsgesetzes“ eingegangen. Eine Sterbeverfügung kann laut Gesetz sowohl vor einem Notar als auch vor der Patientenanwaltschaft errichtet werden. Letztere könnten wegen fehlender Personalressourcen aktuell keine Sterbeverfügungen errichten, wie deren Sprecher Gerald Bachinger laut eines Artikels im Standard („Die neue Möglichkeit der Sterbehilfe nützt bisher kaum jemandem“, 01.06.2022) bekanntgab. Es gebe aber Verhandlungen, die Ressourcen dementsprechend auszubauen, so Bachinger.
NEOS: „Unzumutbare Hürden“
Die Gesundheitssprecherin der NEOS, Fiona Fiedler, kritisierte anlässlich der veröffentlichten Zahlen, „dass das Sterbeverfügungsgesetz todkranken Menschen einen unzumutbaren Hürdenlauf aufbürdet“. „In der Praxis finden Betroffene kaum Ärzte und Notare, bei denen sie eine Sterbeverfügung errichten könnten. Damit geht das Gesetz inhaltlich am Urteil des Verfassungsgerichtshofs vorbei“, so die Politikerin. Sie fordert eine entsprechende Ärzte- bzw. Notarliste von Ärzte- bzw. Notariatskammer und Gesundheitsministerium. Während Ärzte- und Notariatskammer eine solche Liste bereits führen, ist das Gesundheitsministerium laut Gesetz nicht dafür zuständig. Auf Nachfrage des Instituts für Ehe und Familie (IEF) bei den Kammern werden die Listen aktuell gehalten und die Informationen nur nach konkreter Anfrage ausgegeben. Diese Handhabung ist den NEOS nicht genug, die eine Veröffentlichung der Listen fordern.
Ethiker Boer: „Von einer Ausnahme zu einer normalen Sterbeweise“
Der niederländische Ethiker Theo Boer, der einst ein Verfechter der Sterbehilfelegalisierung in seinem Land war, bezeichnete die österreichische Regelung in einem Interview als „liberal“. Auf die Frage, wie er den Umstand beurteile, dass das Gesetz aufgrund mangelnder Information bzgl. hilfsbereiter Ärzte, Notare und Apotheker, sich als „zahnlos“ erweisen könnte, entgegnete der Ethiker, dass „Sterbehilfe“ eben keine normale medizinische Handlung sei. Vielmehr sollte es sich um eine extreme Ausnahme handeln, die „höchstens notfalls gestattet“ wird. Bei dieser Betrachtungsweise bliebe fraglich, ob alle, die „Sterbehilfe“ in Anspruch nehmen wollen, diese auch erhalten sollten, so Boer. Gleichzeitig warnte er vor einer weiteren Liberalisierung und davor, dass „Sterbehilfe“ zum „gesellschaftlichen Standard“ werde. Damit entwickle sich eine Dynamik, die das Problem, das man versuche zu lösen, verschlimmere. „Man löst das Problem der Einsamkeit oder des Alterns ja nicht durch den Tod, ebenso wenig wie Kahlköpfigkeit mit einer Guillotine. Wir müssen zudem ehrlich sein: Es gibt Tragik, gegen die man keine effektiven Maßnahmen treffen kann. In solchen Situationen seinen Bürgern den Tod anzubieten, vermittelt den falschen Schein der Machbarkeit“, so Boer. „Wir müssen uns auch gegen das Leiden härten. Und ich glaube, da sind wir in der ganzen westlichen Welt einer Kultur auf einer falschen Spur, wo wir denken, dass wir irgendwie verpflichtet sind, Tragik und großes Leiden unter allen Umständen aus dem Weg zu räumen. Während Leben können auch heißt, mit Tragik umgehen können und sich vorbereiten auf Jahre, die weniger schön sind.“ In Wirklichkeit sei die Sterbehilfe-Bitte eine soziale Frage und komme aus einem sozialen System oder aus der Abwesenheit eines sozialen Systems hervor, so Boer. Daher arbeite er derzeit an einem Forschungsprojekt, das die Dynamik zwischen Patienten und Angehörigen untersuche, „weil das eine Dimension ist, die wir in Holland deutlich vernachlässigt haben“.
Boer warnt: „Befürworter geben sich mit Kompromissen nicht zufrieden“
Laut Boer würden sich Befürworter der „Sterbehilfe“ nicht mit Kompromissen zufriedengeben. „Die meisten Befürworter haben auf dem Horizont ein eindeutiges Ziel, nämlich die totale Freigabe jeglicher Form von Sterbehilfe. Für sie ist ein Kompromiss immer nur ein ‚stepping stone‘ in Richtung weiterer Liberalisierung.“ Die Forderungen der NEOS und die mediale Berichterstattung (das IEF berichtete) in Österreich deuten in diese Richtung. Die Kritik, dass das Sterbeverfügungsgesetz niemandem „nütze“ und „unzumutbare Hürden“ beinhalte, macht deutlich, dass es den Befürwortern der „Sterbehilfe“ um eine in letzter Konsequenz tödliche Selbstbestimmung geht und nicht um den Schutz vulnerabler Personengruppen oder eine solidarische Haltung mit Leidenden.
Erzbischof Lackner: „Wir können und wollen dazu nicht Ja sagen“
Die katholische Kirche lehnt jede Form der „Sterbehilfe“ im Sinne einer (Selbst)Tötung ab. Gleichzeitig setzt sie sich für den Ausbau der Hospiz- und Palliativangebote ein, um beim Leben zu helfen und Leiden zu lindern. Hierbei betont die Kirche immer wieder, dass es keinesfalls um eine sinnlose Verlängerung des Leidens und ein „Leben um jeden Preis“ gehen dürfe. Diese Position stellte der Vorsitzende der Österreichischen Bischofskonferenz, der Salzburger Erzbischof Franz Lackner, kürzlich in Gesprächen mit der Umweltbundesministerin Leonore Gewessler (Grüne) sowie der Frauen- und Familienbundesministerin Susanne Raab (ÖVP) einmal mehr klar. „Die Einführung des assistierten Suizids etwa ist eine Entscheidung, die wir als katholische Kirche zwar hinnehmen müssen; dennoch möchte ich dies auch an dieser Stelle sagen: Wir können dazu nicht Ja sagen. Das dürfen wir nicht und wollen wir auch nicht.“ Es bleibe in dieser Frage ein „friedlicher Dissens“. Lackner begrüßte hingegen den beschlossenen Ausbau der Palliativversorgung in Österreich, „dessen entschlossene Umsetzung wir erhoffen und unterstützen“. (TSG)