Palliativgesellschaft
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AT / Lebensende: Palliativgesellschaft fordert Änderung des Sterbeverfügungsgesetzes

IEF, 13.01.2023 – Die Aufklärung durch Palliativmediziner im Rahmen des StVfG stehe im Widerspruch zum palliativmedizinischen Auftrag.

„Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“

Mit diesen Worten von Friedrich Nietzsche hat am vergangenen Mittwoch der Präsident der Österreichischen Palliativgesellschaft (OPG), Dietmar Weixler, das von der OPG organisierte Webinar „Töte sich wer kann? ASCIRS – Erfahrungen nach einem Jahr Sterbeverfügungsgesetz“, eröffnet.

Im Rahmen des Webinars berichteten sechs Experten aus verschiedenen Fachbereichen, und zwar aus der Rechtswissenschaft, der Medizin, der Pflegewissenschaft, der Psychologie und der Sozialen Arbeit, über die ersten Erfahrungen mit der in Österreich legalisierten Beihilfe zum Suizid. Die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DPG),

Claudia Bausewein, gab ebenfalls einen Einblick in die Situation in Deutschland, wo das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ die Palliativmedizin vor „Herausforderungen“ gestellt habe. Es nahmen über 300 Teilnehmer an dem Webinar teil – darunter auch Mitglieder der französischen Palliativgesellschaft sowie Mitglieder der österreichischen Bioethikkommission.

Sterbeverfügungsgesetz ist seit einem Jahr in Kraft

Seit dem 1. Jänner 2022 ist das Sterbeverfügungsgesetz (StVfG) in Österreich in Kraft. (Das Institut für Ehe und Familie, IEF hat über das StVfG ausführlich berichtet.) Mit der Verabschiedung des StVfG darf man in Österreich unter drei Bedingungen, straffrei Suizidassistenz leisten.

Die ersten zwei Bedingungen betreffen den Zustand der suizidwilligen Person: Diese muss volljährig sein und an einer unheilbaren bzw. schweren Krankheit leiden. Die dritte Bedingung sieht vor, dass der Suizidwillige von zwei unabhängigen ärztlichen Personen aufgeklärt worden sein muss, wobei eine der beiden über palliativmedizinische Qualifikationen verfügen muss. Wie der Jurist, Michael Prunbauer, im Rahmen des Webinars erklärte, gehe es hierbei darum, dass der suizidwillige Patient über (palliativmedizinische) Alternativen in der Behandlung aufgeklärt werde, bevor er sich gegebenenfalls für den assistierten Suizid entscheide. Der Arzt, der über mögliche Alternativen aufklärt, muss ebenso bestätigen, dass die Krankheit für die sterbewillige Person einen Leidenszustand mit sich bringt, der nicht anders abwendbar ist.

Palliativmediziner stehen als Aufklärende im Wertekonflikt

Laut OPG Präsident Weixler würden sich Palliativmediziner in ihrem Selbstverständnis nicht für die Aufklärung von Suizidwilligen auf dem Weg zum assistierten Suizid zuständig fühlen. Die Rollenzuschreibung des Aufklärenden in Sachen der „Sterbehilfe“ sei für einen Palliativmediziner eine Zumutung, die zu einem Wertekonflikt führe, betonte der Arzt. Im Zentrum der Palliativmedizin stehe nämlich „die Zuwendung und Linderung von Leid und Verzweiflung“. Durch das StVfG würden Palliativteams in ihrer eigentlichen Aufgabe behindert werden; nämlich der, Palliative Care zu betreiben und damit das Leben zu bejahen. (Über den Begriff der Palliativ Care als umfassende und multiprofessionelle Betreuung hat das IEF bereits geschrieben).

Deshalb forderte die OPG eine Änderung des Gesetzes. Bleibe das StVfG in seiner aktuellen Fassung bestehen, sollte die Erfüllung der palliativmedizinischen Aufklärung jedenfalls an spezialisierte, unabhängige Einrichtungen übertragen werden. Darin könnten sich auch (Palliativ-) Mediziner im Rahmen ihrer freiberuflichen Tätigkeit involvieren. „Mobile Palliativteams, Palliativkonsiliardienste, Hospize und Palliativstationen in Krankenhäusern sollen sich aber nicht an assistiertem Suizid und Sterbeverfügung beteiligen“, stellt Weixler klar.

Plattform ASCIRS sammelt erste Erfahrungen im Umgang mit Beihilfe zum Suizid

Palliativteams seien eigenen Aussagen zufolge nach einem Jahr StVfG immer noch unsicher, wie sie mit Anfragen zum assistierten Suizid umgehen sollten, da es „keine entsprechende Vorbereitung von Berufsgruppen“ gegeben habe. Ebenso wurde Kritik daran geübt, dass es keine staatliche Begleitforschung gebe, die die Umsetzung des Sterbeverfügungsgesetzes beobachte.

Unter anderem aufgrund der fehlenden Begleitforschung habe die OPG die Plattform ASCIRS (Assisted Suicide Critical Incident Reporting System) ins Leben gerufen, die seit dem 11. Mai online abrufbar ist und es ermöglicht, der OPG Erfahrungen mit der Suizidbeihilfe durch das Ausfüllen eines Formulars mitzuteilen.

Angehörige, Ehrenamtliche oder natürlich auch Fachpersonen, wie zum Beispiel Ärzte, Psychologen, Pfleger, aber auch Apotheker können auf der Plattform anonym eine Meldung zu einem vollendeten, abgebrochenen oder angefragten Suizid abgeben. Im Formular wird nach der Erkrankung des Patienten sowie nach den Motiven, die vermutlich zur Entscheidung für einen assistierten Suizid beziehungsweise für eine Anfrage geführt haben, gefragt. Auch besteht die Möglichkeit zu beschreiben, wie die Erfahrung persönlich erlebt wurde. Die mitgeteilten Informationen können, so heißt es auf der ASCIRS Seite, „zur Entwicklung unterstützender Leitlinien und damit auch zu einer Verbesserung der Situation beitragen“ sowie als Daten für zukünftige Forschung zum assistierten Suizid hilfreich sein. Im Folgenden werden einige der Informationen, die aus den eingereichten Meldungen gewonnen werden konnten und die von der Gesundheits- und Krankenpflegerin, Angelika Feichtner, präsentiert wurden, vorgestellt.

83 Berichte eingereicht: Körperliche Symptome und Leiderleben als die häufigsten Motive

Insgesamt wurden seit Mai 83 Meldungen auf ASCIRS eingereicht: Bei 59 handelte es sich um Berichte über Anfragen auf Suizidassistenz, bei 23 um Berichte über vollendete assistierte Suizide und bei einer Meldung um einen abgebrochenen Suizid.  Diese Zahl steht im Widerspruch zur Aussage des Gesundheitsministeriums, wonach die vollendenten Suizide mit Stand Dezember 2022 im einstelligen Bereich gelegen hätten (das IEF hat berichtet). Auf Anfrage hieß es bei ASCIRS, dass man sich die Diskrepanz zwischen den Daten nicht erklären könne. Möglicherweise würden nicht alle assistierten Suizide bei der Totenbeschau als solche erkannt.

Nur bei zwei von den 83 Meldungen bestehe laut OPG nach genauerer Prüfung der Verdacht einer Doppelmeldung, was bedeuten würde, dass beispielsweise zwei Angehörige über denselben Fall berichtet haben.

Von den 59 Anfragen zu assistiertem Suizid sei bei 12 Anfragen die Errichtung einer Sterbeverfügung gefolgt, während es bei fast 60 Prozent nicht zur Errichtung einer Sterbeverfügung gekommen sei. Dies könne als Zeichen für die Bedeutung einer Beratung über palliativmedizinische Möglichkeiten in der Entscheidung gegen die Beihilfe zum Suizid gewertet werden.

Die 83 (bzw. 81) Patienten im Alter zwischen 43 und 97 Jahren hätten überwiegend an Tumorerkrankungen oder neurologische Erkrankungen gelitten.

Zu den häufigsten Motiven für eine Anfrage auf Suizidbeihilfe beziehungsweise für einen durchgeführten assistierten Suizid zähle nicht, wie häufig angenommen, die Angst vor einem Autonomieverlust, sondern bestehende körperliche Symptome und Leiderleben. Unter Leiderleben verstehe man dabei, so Feichtner, eine massive Belastungssituation, in der die Patienten keinen Ausweg aus ihrer Lage sehen könnten und wortwörtlich „den Boden unter den Füßen verlieren“ würden. Diese Situation sei nicht ungewöhnlich am Lebensende.

Eine weitere Beobachtung, die sich mit Studien aus anderen Ländern decke, sei die Tatsache, dass es sich bei über 65 Prozent der Meldungen um weibliche Betroffene handle. Laut Feichtner könnte dies deswegen der Fall sein, weil Frauen eine längere Lebenserwartung haben, häufiger von (Alters-) Armut betroffen sind und häufiger unter dem Gefühl litten, eine Last für andere zu sein.

Laut Feichtner deuten die ersten Erfahrungen mit der „Sterbehilfe“ in Österreich darauf hin, dass die Entscheidung für einen assistierten Suizid kaum „eine selbstbestimmte, rationale Entscheidung“ sei, sondern dass sie vielmehr eine Entscheidung sei, die aus „tiefer Not, aus Angst und aus intensiver Leiderfahrung“ entstehe.  Besonders bedenkenswert sei die Tatsache, dass körperliche Symptome der häufigste Anlass für die Anfrage um Beihilfe zum Suizid seien, da gerade diese durch eine umfassende Palliativversorgung gelindert bzw. deutlich reduziert werden könnten.

OPG fordert Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung

Das körperliche Symptome der häufigste Anlass für die Anfrage um Beihilfe zum Suizid seien, spiegle laut Weixler die Tatsache wider, dass die palliativmedizinischen Strukturen in Österreich „mangelhaft aufgestellt“ seien. Obwohl der Zugang zu Palliativmedizin ein Menschenrecht sei, sei in Österreich nicht einmal 50 Prozent der benötigten Palliativversorgung gedeckt. Dies ist umso erschreckender vor dem Hintergrund, dass die World Health Organization (WHO) aufgrund der fortschreitenden Überalterung der Bevölkerung bis 2060 eine Verdoppelung des Bedarfs an Palliativversorgung erwartet (das IEF hat berichtet).

In einem Kontext, in dem Palliativeinrichtungen die „angefragten Leistungen im Sinne einer umfassenden Betreuung und Begleitung von Menschen mit schweren Erkrankungen aufgrund fehlender Ressourcen nicht in dem gewünschten Umfang erbringen können“, seien dieselben Einrichtungen nach dem StVfG dafür zuständig, Patienten über Suizidassistenz aufzuklären.

Zu den Forderungen der OPG gehört daher zunächst einmal, ein Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung in Österreich. Als zweiter Punkt, die Adaptierung des StVfG aufgrund des untragbaren Rollen-, Werte- und Zielkonflikts der Palliativmediziner und zuletzt das Einsetzen einer staatlichen unabhängigen Expertenstelle, die für die Aufklärung der Patienten zuständig sei.

Zum Leben gehört auch der Tod

Passend zu dem Bild der ,,Sterbehilfe“ in Österreich, welches das Webinar skizziert hat, ist ein Kommentar von Alt-Abt Martin Werlen.  Dieser hat sich in Bezug auf die Volksabstimmung im Schweizer Kanton Wallis über ein Recht auf „Sterbehilfe“ in Pflegeheimen folgendermaßen geäußert: Wichtiger als Ja oder Nein zur Sterbehilfe zu sagen, sei es, dafür zu sorgen, dass Menschen den Weg in den begleiteten Suizid gar nicht gehen wollen. Dies sei durch eine ganzheitliche Begleitung durch Palliativ Care möglich.

Werlen habe schon mehrmals Menschen in den letzten Monaten, Wochen, Tagen ihres Lebens begleitet und gesehen welche ,,Prozesse des Loslassens und der Reifung“ Menschen vor dem Tod erleben. „Ich hoffe, dass ich in einem Zustand der Krankheit und Mutlosigkeit nicht Menschen begegnen werde, die mich darin bestärken, mein Leben abrupt zu beenden. Ich hoffe, dass ich dann auf Menschen treffen werde, die mir Hoffnung machen und mich im Leben begleiten, zu dem auch der Tod gehört“. (SM)

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