AT / Lebensende: Gerät die Palliativversorgung durch das Sterbeverfügungsgesetz in Bedrängnis?
IEF, 09.10.2022 – Eine umfassende Palliativkultur wirkt Suizidwünschen am Lebensende entgegen. Doch gefährdet die Suizidassistenz die Palliativversorgung?
Europäische Führungskräfte diskutieren in Wien über die Zukunft der Altenpflege
Etwa zehn bis zwanzig Prozent der Menschen, die in Österreich jährlich sterben, brauchen laut einer Presseaussendung des Austria Center Vienna eine spezialisierte palliativmedizinische Betreuung. Aufgrund der fortschreitenden Überalterung der Bevölkerung und der Zunahme unheilbarer Krankheiten erwartet die World Health Organization (WHO) bis 2060 eine Verdoppelung des Bedarfs an Palliativversorgung (das IEF hat berichtet). Vor kurzem sind im Rahmen des CARE 4.0-Kongresses, welcher Ende September in Wien stattgefunden hat, europäische Führungskräfte aus der Altenarbeit zusammengekommen, um über die Zukunft der Altenpflege zu diskutieren. Im Mittelpunkt des Kongresses stand dabei der sogenannte „CARE+“ Begriff – die Idee eines umfassenden Sorge-, Betreuungs- und Pflegebegriffs.
Palliative Care als „ganzheitliche Versorgung“
Palliativversorgung wird häufig mit Palliativmedizin gleichgesetzt. Palliative Care beschäftigt sich allerdings nicht nur mit rein physischen Aspekten, wie zum Beispiel der Linderung von Schmerzen schwerkranker Menschen, sondern ebenfalls mit den psychosozialen und spirituellen Beschwerden, die mit solchen Krankheiten oft einhergehen, so
Eva Masel, Leiterin der Klinischen Abteilung für Palliativmedizin, Vorstandsmitglied der Österreichischen Palliativgesellschaft und Referentin beim CARE 4.0-Kongress. Das Ziel der Palliative Care sei, die ganzheitliche Lebensqualität von Patienten durch ein Team von Diätologen, Sozialarbeitern, Physiotherapeuten, Psychologen, Seelsorgern, Ärzten und Pflegepersonal so hoch wie möglich zu gestalten. Dafür sei es ratsam, sich rechtzeitig über die Möglichkeiten der Palliativversorgung zu informieren und mit Angehörigen darüber zu sprechen, um „das Lebensende nicht dem Zufall zu überlassen“. „Sterben und Tod“ wären jedoch nach wie vor, auch unter Angehörigen, ein Tabuthema. Auf Seiten der Ärzte sei es daher wichtig, „Menschen rechtzeitig darüber aufzuklären, dass sie Hilfe benötigen werden, sie zu informieren, wo sie Hilfe finden und dass sie auch gut beraten wären, diese frühzeitig anzunehmen“. Masel plädiert dafür, dass alle Ärzte ein Basiswissen in Palliativmedizin erwerben, „um rechtzeitig gemeinsame Therapieziele zu definieren und aufzuzeigen, unter welchen Bedingungen jemand leben kann und möchte“. In der Fachsprache wird dieses vorausschauende Planen, zu dem auch die Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht gehören, Advance Care Planning genannt.
In Österreich widmet sich die Österreichische Palliativgesellschaft als interprofessionelle wissenschaftliche Vereinigung dem Ziel der Sicherstellung einer „ganzheitlichen Betreuung“ von Patienten am Lebensende. Sie unterstützt dabei die Forschungsarbeit und Fortbildung im Bereich der Palliativversorgung sowie deren praktische Ausübung.
Gerät die Palliativversorgung durch das Sterbeverfügungsgesetz in Bedrängnis?
Seitdem Masel in der Palliativversorgung tätig sei, hätte sie immer wieder die Erfahrung gemacht, dass es „einen Weg aus schwerem Leiden“ gebe und dass „Menschen, denen mit Palliative Care geholfen wird, nicht mehr sterben wollen“. Allerdings werde die Palliativversorgung in Ländern, in denen die Beihilfe zum Suizid erlaubt ist, oft schlechter. Dies könnte auch für Österreich, wo seit Januar 2022 das Sterbeverfügungsgesetz in Kraft ist, relevant sein. Mit dem Sterbeverfügungsgesetz, so das Sozialministerium, „kommt der Gesetzgeber dem Grundrecht auf Selbstbestimmung nach und ermöglicht Personen, ihr Leben nach einem freien und selbstbestimmten Entschluss zu beenden und sich dabei allenfalls auch der Hilfe einer dazu bereiten dritten Person zu bedienen“. (Das Institut für Ehe und Familie (IEF) hat über das Sterbeverfügungsgesetz ausführlich berichtet.) Das Sterbeverfügungsgesetz sieht vor, dass ein unheilbar- oder schwerkranker Suizidwilliger von zwei ärztlichen Personen beraten wird; dabei muss mindestens eine der beiden ärztlichen Personen palliativmedizinische Qualifikationen aufweisen. Die Tatsache, dass der Weg eines Suizidwilligen in Österreich zum Palliativmediziner führe, der, unter anderem, den freien Willen des Patienten überprüfen soll, schaffe laut Masel Verunsicherung in der Bevölkerung und bei den Medizinern selbst über die Rolle der Palliativmedizin. Das „Herzblut“ vieler Palliativärzte schlage primär dafür, danach zu fragen, aus welchen Gründen jemand unter den jeweiligen Umständen nicht leben wolle, um dann Wege aus dem Leiden aufzuzeigen.
Deutscher Ethikrat veröffentlicht neue Stellungnahme zum Thema Suizid
Eine umfassende Palliativkultur könne Suizidwünschen am Lebensende entgegenwirken – diese Meinung vertritt auch der katholische Theologe Andreas Lob-Hüdepohn, Mitglied des Deutschen Ethikrates, bezugnehmend auf eine erst kürzlich veröffentlichte Stellungnahme des Gremiums „Suizid – Verantwortung, Prävention und Freiverantwortlichkeit“. Der Deutsche Ethikrat weist in der Stellungnahme vor allem auf die Bedeutung der Suizidprävention hin. Gleichzeitig fordert er, die freiverantwortliche Entscheidung zur Selbsttötung sowohl rechtlich als auch ethisch als „Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts zu respektieren“. Aufgrund der Unumkehrbarkeit der Suizidentscheidung müsse das Maß an Selbstbestimmung jedoch besonders hoch sein. Bezüglich der konkreten Anforderungen an die Freiverantwortlichkeit herrsche im Ethikrat allerdings Uneinigkeit. Die Stellungnahme mache weiters deutlich, dass auch „freiverantwortliche Suizidentscheidungen“ überwiegend aus „Lebenslagen, in denen die Verwirklichung von Grundbedürfnissen massiv erschwert ist“ resultieren würden. Daraus folge, dass das Selbstbestimmungsrecht „in keiner Weise Staat und Gesellschaft von der Verantwortung“ entlaste, „so weit wie möglich dafür Sorge zu tragen, dass Menschen nicht in Situationen geraten und verbleiben, in denen sie sich genötigt sehen, den Tod als vermeintlich kleineres Übel dem Leben vorzuziehen“. Der Ethikrat kommt dennoch zum Schluss, dass Suizidassistenz dann angeboten werden könne, wenn sich „der Suizidwunsch einer Person“, trotz des Aufzeigens von „Perspektiven auf alternative Handlungs- und Entscheidungsoptionen“, „zu einem festen, freiverantwortlichen Willen“ verdichte.
Französische Bischöfe fordern Ausbau der Palliativpflege
Im Zusammenhang mit der in Frankreich von Emmanuel Macron angeregten Bürgerdebatte über die Legalisierung der „Sterbehilfe“ (das IEF hat berichtet), erinnern die Bischöfe an die aktuelle Empfehlung des französischen Ethikrates, noch vor einer möglichen Änderung der Rechtslage, die Palliativmedizin auszubauen und landesweit verfügbar zu machen. Wie die Ärztezeitung berichtet, gebe es in einem Viertel aller französischen Departments keine Palliativpflege. Unter diesen Voraussetzungen sei eine Legalisierung der „Sterbehilfe“, so die Bischöfe, „ethisch nicht vertretbar“. Das Leiden schwerkranker Menschen müsse ernst genommen und gelindert werden. Doch genau hierfür sei die Palliativpflege das beste Mittel, da sie „sowohl den Körper als auch die Beziehungen und die Umgebung des Kranken“ berücksichtige und seit Jahrzehnten „Solidarität und Brüderlichkeit in unserem Land“ fördere, so der Appell der Bischofskonferenz. „Ist nicht ein aktiv unterstütztes Leben das, was jeder zutiefst erwartet, und nicht ein aktiv unterstütztes Sterben?“ fragen die Hirten der katholischen Kirche. Sie plädieren für eine „Hilfe zum Leben“ und damit für eine Stärkung der Palliativmedizin. Diese Position vertritt auch die katholische Kirche in Rom, die ein „Weißbuch zur globalen Förderung der Palliativversorgung“ herausgegeben hat. (SM)