Kinderbetreuung
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AT / Familie: Kinderbetreuungsausbau – Das Kind soll im Fokus stehen

IEF, 24.01.2023 – In Österreich sollen die Kinderbetreuungsangebote ausgebaut werden. Bei allen Herausforderungen sollte das Kindeswohl im Zentrum stehen.

Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Arbeitskräftemangel, demographischer Wandel, Wirtschaftsstandort Österreich – alle diese Themen sind wichtige Anliegen für die Zukunft Österreichs. Ein Schlüssel zur Lösung der Herausforderungen lautet „Kinderbetreuung“. Kürzlich wurde in Niederösterreich die „blau-gelbe Kinderbetreuungsoffensive“ präsentiert. Am Tag darauf trafen sich die Sozialpartner und die Industriellenvereinigung zum Kinderbetreuungsgipfel. Familienvertreter und Pädagogen mahnen dazu, die Bedürfnisse der Kinder in den Vordergrund zu stellen. Konsens ist, dass beim Ausbau der Kinderbetreuungsangebote auf die Qualität geachtet werden muss. Auch die Wahlfreiheit zwischen flexiblen Betreuungsmöglichkeiten zu Hause und institutionellen Angeboten ist vielen ein Anliegen. Fragt man die Mütter selbst, so sagen diese, dass fehlende oder teure Betreuungsangebote nur selten der Grund dafür seien, nicht arbeiten zu gehen. Die Mehrheit gab einer Befragung des ÖIF zufolge an, dass sie ihr Kind selbst betreuen wollten. Das sei auch das Motiv für die hohe Teilzeitquote bei Frauen selbst mit älteren Kindern.

Ausbau des Kinderbetreuungsangebots in Niederösterreich

Am 9. Jänner präsentierte Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner mit anderen Verantwortlichen Details zur Umsetzung der „blau-gelben Kinderbetreuungs-Offensive“, die bereits 2022 einstimmig in der Landesregierung beschlossen worden war.  Das Thema Kinderbetreuung sei eines der wichtigsten Anliegen von Familien, „weil vor allem professionelle Betreuung und Entlastung der Eltern notwendig ist, damit sie ihrer Arbeit nachgehen können“, sagte Mikl-Leitner bei der Pressekonferenz. Deshalb werde man die Kleinkindbetreuung zwischen null und zwei Jahren und auch in den Kindergärten massiv ausbauen. Die Landeshauptfrau gehe davon aus, dass man bis zu 600 zusätzliche Gruppen brauchen werde, somit seien 600 zusätzliche Elementarpädagogen nötig. Neben den 600 Elementarpädagogen brauche es zusätzlich bis zu 1.750 Betreuer in Kindergärten und Kleinkindbetreuungseinrichtungen. Das Land setze Maßnahmen, um das Arbeitsumfeld der Elementarpädagogen zu verbessern, wie Gruppengrößen verkleinern oder Verbesserungen beim Einstieg in den Landesdienst. Land, Städte und Gemeinden würden für „die rasche Umsetzung“ in den kommenden fünf Jahren bis zu 750 Millionen Euro in die Hand nehmen. Ab 2024 sollen die Kindergärten zudem für Kinder ab zwei Jahren, statt wie bisher ab zweieinhalb Jahren, offenstehen. Damit werde die viel kritisierte Karenzlücke geschlossen. Bis dato besteht für Eltern die Möglichkeit bis zu zwei Jahre in Karenz zu gehen, eine öffentliche Kinderbetreuungsmöglichkeit gibt es aber erst für Kinder ab 2,5 Jahren. „Wir wollen den Eltern eine Wahlfreiheit und zusätzliche Betreuungsmöglichkeiten anbieten. In welcher Intensität und ob sie dieses Angebot nutzen, liegt in der Entscheidung der Familien. Wir sind hier nicht Vormund, sondern Partner unserer Familien“, betont Mikl-Leitner gleichzeitig.

Familienverband St. Pölten fordert „familiennähere und flexible“ Angebote

Wie kathpress berichtet forderte der Vorsitzende des Katholischen Familienverbands St. Pölten, Peter Pitzinger, über den Ausbau institutioneller Kinderbetreuung hinaus, „familiennähere und flexible“ Betreuungsmodelle mit zu bedenken. Im Sinne echter Wahlfreiheit müssten auch bewährte Modelle wie Tagesmütter, Leihomas oder Babysitter in viel stärkerem Ausmaß gefördert werden, zeigte sich Pitzinger überzeugt. Diese Betreuungsmöglichkeiten könnten die Randzeiten in der Früh und am Abend abdecken, würden im Landesvorstoß aber leider komplett vergessen. Darüber hinaus müsste das Kindeswohl im Zentrum stehen – vor Interessen der Wirtschaft, so Pitzinger.

Kinderbetreuungsgipfel: „Arbeitskräftemangel verlangt Turbo im qualitätsvollen Ausbau der Kinderbetreuung“

Im Rahmen des Kinderbetreuungsgipfels am 10. Jänner in der Hofburg, diskutierten hochkarätige Experten die zentralen Fragen einer „zukunftsorientierten Kinderbildung und -betreuung“. Vertreterinnen der Sozialpartner und Industriellenvereinigung (IV), Martha Schultz (WKÖ-Vizepräsidentin und FiW-Bundesvorsitzende), Korinna Schumann (Vizepräsidentin und Frauenvorsitzende im ÖGB), Renate Anderl (Präsidentin der AK), Irene Neumann-Hartberger (Vizepräsidentin der Landwirtschaftskammer Österreich, LKÖ, und Bundesbäuerin) und Sabine Herlitschka (IV-Vizepräsidentin) forderten laut Pressemitteilung „eine funktionierende Kinderbetreuung mit Fokus auf frühkindliche Bildung“. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf habe sich in den vergangenen Jahren zu einem gesellschaftlichen Schlüsselthema entwickelt. „Gerade auch vor dem Hintergrund des akuten Arbeits- und Fachkräftekräftemangels ist ein Turbo beim Ausbau der qualitätsvollen Kinderbetreuung vom Neusiedlersee bis zum Bodensee mit einer Ausweitung der Öffnungszeiten, die mit einer Vollzeitbeschäftigung vereinbar sind, ein Muss – wichtig für Frauen, Familien und den gesamten Wirtschaftsstandort Österreich,“ betonte etwa Martha Schultz. Sie forderte einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung. Den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung hält auch die Gewerkschafterin Korinna Schumann für notwendig. Dabei müsse vor allem auf die Beschäftigten in der Elementarpädagogik geschaut werden. „Alle politischen Kräfte sind gefordert, für eine Ausbildungsoffensive und gute Arbeitsbedingungen zu sorgen, um den Arbeitskräftebedarf zu decken“, so Schumann. AK-Präsidentin Renate Anderl unterstrich: „Elementarbildung in hoher Qualität hat gleich zwei sehr positive Effekte: Erstens können durch die Betreuungssicherheit sowohl die Frauenerwerbsquote als auch die Zahl der Arbeitsplätze in der Elementarpädagogik gesteigert werden – das wiederum bringt monetäre Rückflüsse in Form von Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträgen. Und zweitens haben Investitionen in frühkindliche Bildung eine deutlich stärkere Bedeutung als gleich hohe Geldmittel für spätere Bildungsmaßnahmen.“ Neben dem Ausbau der Betreuungsplätze müsse vor allem die Qualität in der frühkindlichen Bildung gewährleistet sein.

Barcelona-Ziel: Bis 2023 soll jedes zweite Kind unter drei Jahren fremdbetreut werden

Der Europäische Rat hat vor zwanzig Jahren mit dem Barcelona-Ziel beschlossen, dass 33 Prozent der Kinder unter drei Jahren und 90 Prozent der Kinder über drei Jahren eine Kinderbetreuungseinrichtung besuchen sollen. Und dieses Ziel soll bis 2030 deutlich erhöht werden. Dann sollte jedes zweite Kind unter drei Jahren fremdbetreut werden. Der Katholische Familienverband fordert daher, dass auch die Betreuung durch Großeltern, Leihgroßeltern oder familienergänzende Betreuungsformen wie Tageseltern (wie es auch in anderen Ländern gehandhabt wird) in die österreichische Quote für das Erreichen des Barcelona-Zieles eingerechnet werden: „Die Barcelona-Ziele der EU sind eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme, diese werden in Österreich als familienpolitische Ziele völlig missverstanden“, so Alfred Trendl, Präsident des Katholischen Familienverbandes. Der Familienverband macht sich stark für Rahmenbedingungen, die Familien ihr persönliches Lebensmodell verwirklichen lassen. Familienarbeit mit den Ansprüchen der Erwerbsarbeit zusammenzuführen sei eine große Aufgabe, wobei diese einander nicht ausschließen sollten. Daher „müssen wir von einer arbeitsorientierten Familienwelt zu einer familienorientierten Arbeitswelt kommen“, so der Familienverband.

Wie der Katholische Familienverband Österreich berichtet, werde das Barcelona-Ziel in Österreich durchwegs unterschiedlich beurteilt. Während der Vorstand des Arbeitsmarktservice (AMS) Johannes Kopf die Erhöhung des Fremdbetreuungslevels begrüßt, hält die Kindergartenleiterin Naomi Matthews „das Erreichen der Barcelona-Ziele für eine Illusion“. Die Leiterin eines Kindergartens in Klagenfurt sieht in erster Linie Probleme bei der praktischen Umsetzung: „Zuerst muss die massiv angespannte Lage in Kinderbildungs- und Betreuungseinrichtungen deeskaliert werden; erst dann kann schrittweise am Erreichen der Barcelona-Ziele und somit am Ausbau der Kinderbildungs- und Betreuungseinrichtungen gearbeitet werden.“ Das Pädagogische Fachpersonal stehe kurz vor dem Kollaps, während „dieser wichtige Sektor weiterhin billig abgespeist“ werde, warnte die Pädagogin.

ÖIF: Mütter möchten ihre Kinder die ersten Jahre selbst betreuen

In Österreich werden derzeit laut Vortrag an den Ministerrat im Mai 2022 rund 31 Prozent der unter Dreijährigen außerhäuslich betreut. Die Besuchsquote bei Drei- bis Sechsjährigen liegt bei rund 95 Prozent. Detaillierte Informationen sind im Bericht „Familie in Zahlen 2022“ des Österreichischen Instituts für Familienforschung (ÖIF) zu finden. Darüber hinaus wertete das ÖIF für die APA Mikrozensus-Daten aus, die zeigten: Je jünger das Kind, umso weniger spielt das Betreuungsangebot eine Rolle dabei, ob seine Mutter arbeiten geht. Für den Mikrozensus wurden jene, die wegen der Betreuung von Kindern (oder pflegebedürftigen Erwachsenen) nicht berufstätig sind, nach ihrem Motiv befragt. Das Ergebnis: 79 Prozent der nicht berufstätigen Frauen mit einem Kind im ersten Lebensjahr blieben demnach daheim, weil sie selbst die Betreuung übernehmen wollten. Nur 4,3 Prozent nannten als Grund, dass das Angebot zu teuer wäre, 2,9 Prozent sagten, dass es kein passendes gebe. Bei Müttern von Zweijährigen spielten mangelnde Verfügbarkeit eines passenden Angebots (14 Prozent) beziehungsweise zu hohe Kosten (4,5) zwar eine größere Rolle. Häufigstes Motiv sei aber weiter der Wunsch, das Kind selbst zu betreuen (62 Prozent) – und dieses bleibe auch bei Müttern älterer Kinder dominant. Selbst unter Müttern, deren jüngstes Kind acht Jahre alt ist und die wegen Betreuungsaufgaben nicht berufstätig sind, gaben mehr als die Hälfte der Befragten diesen Grund an.

Katholischer Familienverband Wien: Qualitätsoffensive und Imagewandel in der Kleinstkinder- und vorschulischen Kinderbetreuung

Den Imagewandel des Bereichs der Elementarpädagogik stellt auch der Katholische Familienverband Wien anlässlich des Tags der Elementarbildung am 24. Jänner in den Fokus. Außerdem fordert der Verband in einer Stellungnahme einmal mehr eine Qualitätsoffensive in der Kleinstkinder- und vorschulischen Kinderbetreuung. „Kindergärten und Krippen werden häufig immer noch als Aufbewahrungsstelle von Kindern berufstätiger Eltern und nicht als Bildungsstätte betrachtet. Das ist ein großes Manko, das es zu beseitigen gilt, findet doch in Kindergärten die erste, außerfamiliäre Bildung statt“, meint Roland Löffler, Leiter des Arbeitskreises Elternrecht und Schule beim Katholischen Familienverband Wien. Dabei könne die Elementarpädagogik gar nicht ernst genug genommen werden. Sie vermittle den Kindern jene Kompetenzen, die sie für einen guten Schulstart und weitere Schullaufbahn brauchten, darunter auch Sprachkenntnisse. Neben dem Imagewandel plädiert der Familienverband auch für mehr pädagogisches Personal, mehr individuelle Förderungen der Kinder und kleinere Betreuungsgruppen, insbesondere in der Kleinstkinderbetreuung. Aber auch das Thema Wahlfreiheit der Eltern ist dem Verband ein Anliegen: „Gerade für Kleinstkinder muss es für Eltern eine Wahlfreiheit zwischen unterschiedlichen Betreuungsmodellen geben, diese schließt für uns die ausschließliche Betreuung durch die Eltern in den ersten Lebensjahren mit ein“, so Löffler.

St. Nikolausstiftung: Das Kind muss im Fokus stehen

Dass Reformen im elementarpädagogischen Bereich längst notwendig sind, bekräftigt auch die St. Nikolausstiftung, Trägerin von rund 90 Horten und Kindergärten in der Erzdiözese Wien, in einer Presseaussendung. „Aber wir vermissen den Fokus auf das Kind. An erster Stelle sollte stehen, was brauchen Kinder in Österreich, um gesund aufwachsen zu können und damit sie gut in ihre Bildungslaufbahn starten können, denn das ist der Auftrag des Kindergartens, deshalb brauchen wir dringend bessere Rahmenbedingungen“, schildert Elmar Walter, Geschäftsführer der St. Nikolausstiftung, die Sachlage. Die pädagogische Qualität in elementaren Bildungseinrichtungen sei für die Entwicklung der Kompetenzen junger Kinder und damit für ihre Bildungsbiografie ausschlaggebend. Gute Qualität bedeute, dass Kinder optimale Bedingungen für ihre individuelle Entwicklung vorfänden. Von dieser Förderung profitiere nicht nur jedes Kind, sondern auch die Gesellschaft insgesamt. Für elementarpädagogische Einrichtung bedeute das einen guten Fachkraft-Kind-Schlüssel, weniger Kinder in der Gruppe und multiprofessionelles Unterstützungspersonal, damit jedes Kind die Förderung und Begleitung bekomme, die es für seine Entwicklung benötige. Das sei für ein Kind Sprachförderung, für ein anderes Kind Unterstützung bei kognitiven, sozial-emotionalen oder motorischen Kompetenzen. „Der Beweggrund für konkrete und nachhaltige Veränderungen in der Elementarpädagogik muss das Kind mit seinen individuellen Bedürfnissen sein. Und wenn es dann auch noch der Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie der Wirtschaft dient, dann ist es eine Win-Win-Situation für alle“, bekräftigt die Stiftung. Mit vielen fundiert ausgebildeten Fachkräften und entsprechenden Rahmenbedingungen könne der Kindergarten, die erste Bildungseinrichtung, diese gesellschaftlich wichtige Aufgabe der frühkindlichen Bildung übernehmen. „Gut ausgebildete und gesunde Kinder sind die gut ausgebildeten und engagierten Menschen der Zukunft.“ (TSG)

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