AT / Familie: Gericht hilft, Biologie zu überwinden
IEF, 05.09.2022 – Laut dem Verfassungsgerichtshof dürfen lesbische im Abstammungsrecht nicht anders als heterosexuelle Paare behandelt werden.
Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat im Urteil vom 30. Juni 2022 festgestellt, dass die unterschiedliche Behandlung von verschiedengeschlechtlichen und gleichgeschlechtlichen Paaren in Bezug auf abstammungsrechtliche Regelungen diskriminierend sei. Entsprechende Vorschriften im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) wurden vom VfGH mit Ablauf des 31. Dezembers 2023 aufgehoben. Bis dahin habe der Gesetzgeber Zeit andere verfassungskonforme Regelungen zu erlassen.
Der Anlassfall
Bei den Beschwerdeführerinnen in dem am VfGH anhängigen Fall handelte es sich um zwei Frauen, die in einer eingetragenen Partnerschaft leben und von denen eine am 18. Dezember 2019 ein nicht im Wege medizinisch unterstützter Fortpflanzung, sondern durch Heiminsemination gezeugtes Kind zur Welt brachte. (Unter Heiminsemination versteht man eine privat durchgeführte Besamung ohne ärztliche Unterstützung.) Der Partnerin der Mutter wurde die Eintragung in das Zentrale Personenstandsregister als „Elternteil“ von den zuständigen Behörden mit Verweis auf die geltende Rechtslage verwehrt. Die Frauen erhoben dagegen Beschwerde, die der VfGH zum Anlass nahm, die von den Behörden angewendeten Gesetzesbestimmungen einer Prüfung zu unterziehen.
Die angefochtenen Vorschriften
Die relevanten ABGB-Vorschriften besagen, dass der Ehemann der Mutter grundsätzlich als Vater des von ihr geborenen Kindes gilt, während die Partnerin der Mutter nur dann automatisch als Elternteil gilt, wenn das Kind im Wege medizinisch unterstützer Fortpflanzung gezeugt wurde.
Argumente der Bundesregierung zugunsten der Differenzierung
Die Bundesregierung verteidigte als Verfahrenspartei die bis dato geltende Rechtslage mit dem Argument, dass für die Ungleichbehandlung im Abstammungsrecht eine sachliche Begründung vorliege. Der Ehemann der Mutter sei nämlich in den meisten Fällen auch der biologische Vater des Kindes. Diese Vermutung, dass das Kind von der Ehegattin der Partnerin stammt, könne im Falle einer gleichgeschlechtlichen Beziehung jedoch nicht aufgestellt werden. Jede Frau sei nämlich zeugungsunfähig, so die Bundesregierung. Auch der EGMR hätte in einem ähnlich gelagerten Fall (Boeckel und Gessner-Boeckel gegen Deutschland) entschieden, dass sich Ehepartnerinnen in Bezug auf die Eintragung der Elternschaft nicht in einer vergleichbaren Situation zu heterosexuellen Ehepartnern befinden würden. Ähnlich habe auch der deutsche Bundesgerichtshof 2018 (BGH XII ZB 231/18) entschieden.
Der Vater und das Kind werden um ihre Rechte gebracht
Neben der sachlichen Rechtfertigung führte die Bundesregierung zudem an, dass die geltende Rechtslage im Interesse des Kindeswohls stünde. Bei einer nicht medizinisch unterstützen Fortpflanzung würde nämlich neben der Mutter der biologische Vater des Kindes als Elternteil in Betracht kommen. Die Feststellung der Vaterschaft sei nur dann faktisch unmöglich, wenn eine anonyme Samenspende über das Internet oder unter Umgehung der Vorschriften des Fortpflanzungsmedizingesetzes (FMedG) im Ausland bestellt werde. Beides seien aus Sicht des Gesetzgebers nicht wünschenswerte Vorgehensweisen.
Wäre die Partnerin der Mutter automatisch Elternteil eines nicht durch medizinisch unterstützte Fortpflanzung gezeugten Kindes, könnte sie innerhalb von zwei Jahren die Nichtabstammung des Kindes feststellen lassen. Damit hätte das Kind in der Folge nur einen obsorgeberechtigten Elternteil. Dies würde zu einer Ungewissheit für das Kind und die Mutter führen. Anders sei dies im Falle medizinisch unterstützter Fortpflanzung, bei der die Partnerin der Mutter der Verwendung des Samens Dritter in Form eines Notariatsaktes zustimmen muss. Diese Zustimmung schließe eine nachträgliche Feststellung der Nichtabstammung aus.
Die Bundesregierung sieht es daher als gerechtfertigt an, dass der Schutz der rechtlich-sozialen Familie zweier Frauen einer Vereinbarung beispielsweise in Form eines Notariatsaktes bedarf. Außerdem stehe es der Partnerin der Mutter offen, Elternschaft im Zuge der Stiefkindadoption zu erlangen, sollten sich das Paar gegen die medizinisch unterstützte Fortpflanzung entscheiden.
Recht auf Kenntnis der Abstammung
Bei gleichgeschlechtlichen Eltern ergebe sich zwangsläufig die Frage nach der biologischen Abstammung. Kindern gleichgeschlechtlicher Eltern sollte auch gegen den Willen der Eltern die Kenntnis der biologischen Abstammung ermöglicht werden. Dieses Recht ist jedoch nur im Falle medizinisch unterstützter Fortpflanzung gesichert. Nach dem Fortpflanzungsmedizingesetz (FMedG) hat das Kind nämlich ab dem 14. Lebensjahr die Möglichkeit, Auskunft über den Spender von den Kinderwunschzentren in Österreich zu erhalten. Das Abstellen auf die medizinisch unterstützte Fortpflanzung bei gleichgeschlechtlichen Paaren liege daher im Interesse des Kindeswohls, so die Bundesregierung abschließend.
Unterscheidung begründet Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Orientierung
Der VfGH hielt dem entgegen, dass das Gesetz eine ungebührliche Unterscheidung zwischen verschiedengeschlechtlichen und gleichgeschlechtlichen Paaren treffe. Während nämlich die Partnerin der Mutter nur im Wege medizinisch unterstützter Fortpflanzung „anderer Elternteil“ des Kindes werde, könne der Mann die Vaterschaft auch dann anerkennen, wenn das Kind von einem Dritten und zwar nicht im Wege medizinisch unterstützter Fortpflanzung – also beispielsweise im Wege einer „Heiminsemination“ – gezeugt wurde. Das Gesetz gehe damit im Hinblick auf den Vater von der sozialen Abstammung aus und schütze die soziale Familie vor dem „Hineindrängen“ des biologischen Vaters.
Rechtsfolgen dürfen nicht an sexuelle Orientierung geknüpft werden
Die im Abstammungsrecht vorhandene Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Orientierung verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz. Dieser sehe eine gesetzliche Ungleichbehandlung nur bei Vorliegen besonders schwerwiegender Gründe als gerechtfertigt an. Der VfGH erkenne zwar an, dass es zwischen verschiedengeschlechtlichen und gleichgeschlechtlichen Beziehungen im Hinblick auf die Zeugungsfähigkeit tatsächlich Unterschiede gebe. Die Diskriminierungsverbote würden es dem Gesetzgeber jedoch verwehren, an diese geschlechtsspezifische Unterscheidung nach der sexuellen Orientierung unterschiedliche Rechtsfolgen zu knüpfen.
Mangelnde Regelungen bieten keine Rechtfertigung
Das Argument der Bundesregierung, dass es Regelungen zum Schutz der sozialen Familie und des Rechts des Kindes auf Kenntnis der Abstammung (derzeit) nur für den Fall gibt, dass sich die Mutter und ihre Partnerin für eine medizinisch unterstützte Fortpflanzung nach dem FMedG entscheiden, greife nicht. Derartige Regelungen könnten nach Ansicht des VfGH nämlich (noch) erlassen werden.
Kinderwunsch und Wahl der Fortpflanzungsart von Art. 8 EMRK geschützt
Der VfGH nimmt in der Entscheidungsbegründung auch auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Bezug und hält fest, dass gleichgeschlechtliche Paare, ihr Kinderwunsch und die Entscheidung für die natürliche oder medizinisch unterstützte Fortpflanzung dem Schutz des Familienlebens nach Artikel 8 EMRK unterliegen. Vor diesem Hintergrund sei es nicht ersichtlich warum der „Gesetzgeber die Mutter, will sie gemeinsam mit ihrer Partnerin den Schutz der sozialen Familie in einer gleichgeschlechtlichen Ehe oder (eingetragenen) Partnerschaft verwirklichen, zu einer medizinisch unterstützten Fortpflanzung nach dem FMedG zwingt und ihr andere Möglichkeiten der Fortpflanzung verwehrt“. Auch aus dem Blickwinkel des Kindeswohls sei diese Vorgehensweise nicht gerechtfertigt, zumal dem Kind in Fällen von „Heiminsemination“ erbrechtliche (Versorgungs-)Ansprüche gegenüber der Partnerin der Mutter verwehrt blieben.
IEF-Kommentar zum VfGH-Urteil
Weder der EGMR noch der deutsche Bundesgerichtshof sahen in den von der Bundesregierung zitierten Entscheidungen eine Diskriminierung darin, dass die Partnerin der Kindesmutter anders als der Partner, nicht allein aufgrund der Beziehung zur Mutter von Gesetzes wegen rechtlicher Elternteil des Kindes werden könne. Laut dem EGMR rechtfertige der Unterschied, wonach die Partnerin der Mutter rein biologisch nicht leiblicher Elternteil des Kindes sein könne, die im Rahmen des Abstammungsrechts bestehende abweichende Behandlung gleich- und verschiedengeschlechtlicher Paare und deren Kinder.
Es ist interessant, dass der VfGH, sich ebenfalls auf den EGMR berufend, im gegenständlichen Fall dennoch eine Diskriminierung erblickt und Gesetzesvorschriften, die unter anderem die Rechte des Kindes auf Kenntnis der Abstammung absichern sollen, aufhebt. Dabei lässt der VfGH Artikel 7 der UN-Kinderrechtskonvention völlig außer Acht. Dieser sieht nämlich vor, dass jedes Kind das Recht hat seine Eltern zu kennen und von ihnen betreut zu werden. Aus der Erfahrung vieler adoptierter Kinder und jener, die durch Gametenspende im Rahmen der Reproduktionsmedizin auf die Welt kamen, wissen wir außerdem wie sehr sich Kinder danach sehnen, die biologischen Eltern zu kennen und wie schmerzhaft es für sie sein kann, sich von ihnen verstoßen bzw. nicht beachtet zu fühlen.
Der VfGH geht in seinem Urteil auch in keinem Satz auf die Rolle und Rechte des biologischen Vaters im Falle einer natürlichen, nicht im Zuge einer medizinisch unterstützten Fortpflanzung erfolgten Zeugung ein. Bedenklich sind zudem die im VfGH-Urteil enthaltenen Aussagen, wonach der Gesetzgeber keine unterschiedlichen Rechtsfolgen an die geschlechtsspezifische Unterscheidung nach der sexuellen Orientierung knüpfen dürfe. Fällt der Kinderwunsch, wie vom VfGH dargelegt, unter den Schutz des im Artikel 8 EMRK verbürgten Rechts auf Familienleben und dürfen Paare aufgrund ihrer sexuellen Orientierung nicht diskriminiert werden, ist der Weg zur Legalisierung der Leihmutterschaft für schwule Paare geebnet.
Schließlich ignoriert der VfGH die Tatsache, dass die Ungleichbehandlung durch die Möglichkeit der Stiefkindadoption des Kindes durch die Partnerin der Mutter erheblich abgemildert wird. Selbst der am Verfahren beteiligte Verein FAmOs Regenbogenfamilien gab in der Presseaussendung zum Urteil an, dass die Stiefkindadoption „in Österreich in der Regel nicht kompliziert“ sei. (AH)