
AT / Behinderung: Bürgerinitiative für mehr Inklusion in der Schule
IEF, 03.12.2022 – Über 35.000 Bürger fordern ein Recht auf ein elftes und zwölftes Schuljahr für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf.
#PurpleLightUp Kampagne lässt den Stephansdom aufleuchten
Am vergangenen Samstag, den 3. Dezember, hat der Stephansdom lila geleuchtet. Anlass der besonderen Beleuchtungsaktion war der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen. Weltweit haben Organisationen durch die Kampagne #PurpleLightUp die Öffentlichkeit darauf aufmerksam gemacht, „dass die Rechte von Menschen mit Behinderung noch immer nicht ausreichend gewährleistet werden“, so die Caritas Österreich.
Bürgerinitiative fordert Recht auf ein elftes und zwölftes Schuljahr für Kinder mit Behinderung
In Österreich hat eine erfolgreiche Bürgerinitiative in den letzten Monaten das Thema Bildung in den Mittelpunkt der Debatte um Inklusion und Rechte für Menschen mit Behinderungen gerückt. In einer Petition, die am 21. November beim Nationalrat eingereicht wurde, haben über 35.000 österreichische Bürger auf eine „vorherrschende Ungleichbehandlung“ von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) durch das aktuelle Schulunterrichtsgesetz hingewiesen. Sie fordern unter anderem ein „Recht auf ein 11. und 12. Schuljahr für Kinder mit Behinderung“.
Kein Rechtsanspruch auf einen längeren Schulbesuch
Wie in der Petition erklärt wird, gilt in Österreich für alle Kinder eine neunjährige Schulpflicht. Wenn diese absolviert ist, dürfen Schüler ohne SPF, ihre Ausbildung an einer sogenannten weiterführenden Schule fortsetzen. Für Kinder mit SPF sind hingegen nur zehn Schuljahre vorgesehen. Es besteht zwar die gesetzliche Möglichkeit zu einem freiwilligen elften und zwölften Schuljahr, sie muss jedoch von der Bildungsdirektion des jeweiligen Bundeslandes bewilligt werden. Dabei seien, wie der ORF erklärt, die Voraussetzungen und Kriterien für eine Bewilligung ebenso wenig geregelt „wie ein Rechtsanspruch auf einen längeren Schulbesuch“.
„Ungleichbehandlung“ entspricht nicht der UN-Behindertenrechtskonvention
Die Tatsache, dass „Kinder mit Behinderung kein Recht auf ein elftes und zwölftes Schuljahr haben“, Kinder ohne Behinderung jedoch schon, sei, so heißt es in der Petition, „eine Ungleichbehandlung“, die den Richtlinien, zu denen sich Österreich mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2008 verpflichtet habe, nicht entspreche. Viele Behindertenverbände hätten laut ORF außerdem die Kritik geäußert, dass die Eltern von Schülern mit SPF, die eine längere Schullaufbahn beantragen, zu „Bittstellenden“ degradiert werden würden.
Weitere „Ungleichbehandlung“ je nach Wohnort
Hinzu kommt, so erklärt Karin Riebenbauer, die die Bürgerinitiative mitinitiiert hat und selbst Mutter eines Sohnes mit Entwicklungsverzögerung ist, dass in der Praxis die freiwilligen zusätzlichen Schuljahre „seit einiger Zeit nur noch in den seltensten Fällen bis gar nicht“ gewährt würden. Auch sei die Chance auf eine längere Schullaufbahn, je nachdem in welchem Bundesland man lebe, unterschiedlich hoch. So sei beispielsweise die Quote der Ablehnungen in Wien am höchsten. Zusätzlich zu der allgemeinen Ungleichbehandlung von Kindern mit Behinderung gebe es also auch eine Ungleichbehandlung je nach Wohnort. Die Tatsache, dass die zwei zusätzlichen Schuljahre in Wien häufiger als in anderen Bundesländern abgelehnt werden würden, weil es an Ressourcen – konkret, an Schulplätzen und Personal – für diese Kinder mangele, sei laut Wilfried Prammer, Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich, ein Skandal. Auf Basis abgelehnter Bescheide haben die Initiatoren der Petition deswegen laut Medienberichten zusätzlich Klage gegen die Republik eingereicht.
„Starres Schulsystem“ entspricht nicht den tatsächlichen Bedürfnissen von Kindern mit Behinderungen
Die Bürgerinitiative macht darauf aufmerksam, dass Kindern mit Behinderung ein Schulsystem „übergestülpt“ werde, welches starr sei und welches in vielen Belangen nicht ihren tatsächlichen Bedürfnissen entspreche. So dürfe es zum Beispiel keine höhere als die neunte Stufe einer Sonderschule geben. Gerade bei Kindern, deren Entwicklung verzögert ist, wären allerdings, so Riebenbauer, zusätzliche Schuljahre wichtig, um bessere Chancen auf einen Job am ersten Arbeitsmarkt und damit auf ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu haben. „Gerade in der Pubertät tut sich kognitiv viel“, erklärt Riebenbauer. So habe ihr Sohn mit dreizehn Jahren zu schreiben begonnen. Gerade wenn Kinder mit Behinderungen und Entwicklungsverzögerung am empfänglichsten für Bildung wären, da sie mit zunehmendem Alter auch in ihren sozial-emotionalen und kognitiven Fähigkeiten reifen, würden sie „aus dem Schulsystem hinausgedrängt“, heißt es in der Petition.
Rückenwind erhält die Initiative von dem Präsidenten des Behindertenrates, Klaus Widl. Er ist der Meinung, dass das Recht auf Bildung ein Menschenrecht sei und dass „grundsätzlich eine Ausweitung der Ressourcen für inklusiven Unterricht und inklusive Bildung auf allen Ebenen“ notwendig seien. Auch er verweist dabei auf die von Österreich ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention. Mit dieser hat sich Österreich unter anderem dazu verpflichtet, „Menschen mit Behinderung ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre mentalen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen“ und „zu einer wirksamen Teilhabe an einer freien Gesellschaft zu befähigen“.
Unterzeichner fordern gesetzliche und strukturelle Veränderungen
Konkret fordern die Unterzeichner der Petition die Umsetzung von fünf Anliegen. Erstens, dass das Schulpflichtgesetz dahingehend verändert werde, dass Kinder mit Behinderung, die eine Entwicklungsverzögerung haben, bis zu zwei Jahre später eingeschult werden dürfen und dass sich dementsprechend die Berechnung der Schuljahre ebenfalls um bis zu zwei Jahre nach hinten verschiebe. Zweitens, dass es einen gesetzlich klar definierten Rechtsanspruch für ein elftes und zwölftes Schuljahr auch für Kinder mit SPF gebe. Um dies zu ermöglichen, werden in den drei weiteren Punkten strukturelle Veränderungen gefordert. So sollen sonderpädagogische Angebote in der Sekundarstufe 2 eingerichtet werden, zum Beispiel in berufsbildenden mittleren Schulen. Um „flächendeckend und bedarfsgerecht Inklusionsplätze im Sinne der Behindertenrechtskonvention anbieten zu können“, sollen wiederum die Stellenpläne und Budgets der Schulen seitens des Bundes und der Länder aufgestockt werden. Außerdem soll die Bundesregierung dafür Sorge tragen, dass durch mehr Ausbildungsplätze und Anreize im Bereich der Arbeitsbedingungen und Besoldung mehr Pädagogen dazu angeregt werden, in dem „herausfordernden und verantwortungsvollen“ Bereich der Sonderpädagogik tätig zu werden.
Unterstützung aus dem Parlament
Das Parlament wird die eingereichte Petition demnächst behandeln. Die meisten Parteien haben dabei laut dem ORF Unterstützung signalisiert. Die Bildungssprecherin der Grünen, Sibylle Hamann, erklärte, dass „Jugendliche, die mehr Zeit in der Schule benötigen, um ihr ganzes Potenzial auszuschöpfen, diese Zeit auch bekommen müssen“. Die ÖVP-Behindertensprecherin, Kira Grünberg, zeigte sich etwas zurückhaltender mit einem Urteil bezüglich der Petition. Sie meinte allerdings, man werde die Petition mit dem Ziel, „bedürfnisgerecht zu helfen“, „sorgfältig prüfen“. Auch die Oppositionsparteien unterstützen die Forderungen.
Die Bildungsdirektion in Wien sei sich ebenfalls dessen bewusst, dass immer mehr Menschen einen längeren Schulbesuch für Schüler mit SPF fordern: „Für eine dauerhafte Abhilfe (…) benötigt es einen Lehrplan, der für alle Schülerinnen und Schüler Lernangebote auf der zehnten bis zwölften Schulstufe vorsieht, und des grundsätzlichen Rechtes auf einen längeren Schulbesuch, der nicht von einer Bewilligung abhängen darf“. Um zweiteres zu garantieren, müssten nur zehn Wörter aus dem Schulunterrichtsgesetz gestrichen werden („mit Zustimmung des Schulerhalters und mit Bewilligung der zuständigen Schulbehörde“). Doch die Etablierung eines wirklich inklusiven Schulsystems im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention erfordert primär finanzielle Ressourcen für strukturelle Veränderungen, wie in der Petition dargelegt und gefordert wird. (SM)