CH / Lebensende: Ärzte kritisieren die Lockerung der ärztlichen Suizidbeihilfe
IEF, 12.6.2018 – Die neuen „medizin-ethischen Richtlinien zum Umgang mit Sterben und Tod“ der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) erlauben Ärzten in Zukunft, Sterbehilfe ohne Vorliegen einer tödlichen Krankheit zu leisten. Josef Widler, Präsident der Ärztegesellschaft des Kantons Zürich, spricht von einem „Dilemma“ für Ärzte.
„Suizidbeihilfe keine Aufgabe des Arztes“
Den am 6.6.2018 veröffentlichten Richtlinien zufolge soll Sterbehilfe durch Ärzte geleistet werden dürfen, wenn unerträgliches Leiden vorliege. Die Beurteilung, wann unerträgliches leiden vorliege, werde nun Ärzten übertragen, kritisiert der Züricher Ärztepräsident Widler in einem Interview mit dem Züricher Tagesanzeiger. „Der Begriff ‚unerträgliches Leiden‘ ist unbestimmt und hängt von der Einschätzung des Patienten und dessen Wertvorstellungen ab. Das macht es für den Arzt sehr schwer, eine klare Grenze zu ziehen“, so Widler. „Suizidbeihilfe gehöre nicht zur Aufgabe des Arztes“, betont Widler. Die SAMW mache die Beihilfe zum Suizid zu einer ärztlichen Tätigkeit, unabhängig davon, ob jemand an einer tödlichen Krankheit leide. „Mit dieser Neuregelung bringt die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften die Ärzte in ein Dilemma“, so Widler. Er fürchte außerdem, dass aufgrund der Lockerung der Druck auf Ärzte steigen werde, tödliche Mittel zu verschreiben. „Dagegen wehren wir uns“, so Widler.
Politik scheut gesetzliche Regelung der Sterbehilfe
Scharfe Kritik übt Widler auch an der Politik, die bislang eine gesetzliche Regelung der Sterbehilfe abgelehnt habe. Die Regelung der Suizidbeihilfe dürfe nicht wie aktuell bloß über ärztliche Richtlinien erfolgen. Aber „die Politiker haben das Thema bisher gescheut wie der Teufel das Weihwasser“, so der Ärztepräsident.
„Grundsätzliches Problem mit dem Sterben“
„Wir haben in unserer Gesellschaft ein grundsätzliches Problem mit dem Sterben“, stellt Widler außerdem fest. „Wir haben keine Sterbekultur mehr, empfinden Sterben als etwas Exotisches“, so der Arzt. Außerdem fehle „heute bei vielen der metaphysische Überbau“. „Früher half den Leuten die Religion. Der Glauben fehlt heute bei vielen, das macht das Sterben nicht einfacher“, meint Widler.
Was ist in der Schweiz erlaubt?
Die Sterbehilfe ist in der Schweiz nicht explizit geregelt. Laut NZZ scheiterte zuletzt 2011 ein Projekt der damaligen Justizministerin aufgrund mangelnden politischen Konsenses. Erlaubt ist in der Schweiz der assistierte Suizid, nicht erlaubt ist Tötung auf Verlangen, bei der eine andere Person dem Sterbewilligen das tödliche Mittel verabreicht. Beim assistierten Suizid verschreibt der Arzt das tödliche Medikament, dass der Suizidwillige selbst einnehmen muss. Voraussetzung für die Beihilfe zum Freitod ist, dass die Person urteilsfähig und ausreichend informiert ist. Der Sterbewunsch muss wohlerwogen, ohne äußeren Druck geäußert und dauerhaft sein. In der Schweiz gibt es Vereine, wie „Exit“ oder „Dignitas“, die Sterbehilfe für suizidwillige Personen organisiert. Für Aufsehen sorgte kürzlich der Fall des 104-Jährigen Australiers, der im Mai 2018 in die Schweiz reiste, und durch Sterbehilfe starb. Wie das Institut für Ehe und Familie (IEF) berichtete, nutzte er seine letzte Reise, um für Sterbehilfe ohne tödliche Krankheit, sondern als Selbstbestimmungsrecht zu werben.
Fall gegen Gründer der Sterbehilfeorganisation Dignitas wird neu aufgerollt
Im Zusammenhang mit den neuen Richtlinien zur ärztlichen Suizidbeihilfe berichtet das Wiener Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE) über den Gründer des schweizerischen Vereins Dignitas, Ludwig Minelli. Der 85-jährige Minelli war angeklagt, Beihilfe zum Suizid aus „selbstsüchtigen Beweggründen“ zu leisten und sich des Wuchers schuldig gemacht zu haben. Anfang Juni war er freigesprochen worden. Der zuständige Staatsanwalt gehe gegen das Urteil in Berufung. Die Staatsanwaltschaft hoffe mit der Neuaufrollung des Urteils auch die Frage zu klären, welcher Betrag für eine Suizidbegleitung angemessen sei, und ab welcher Grenze Wucher betrieben werde. Schätzungen zu Folge kämen die drei Schweizer Organisationen Dignitas, Exit und Eternal Spirit mit ihrem Angebot zur „Freitodbegleitung“ mittlerweile auf einen Jahresumsatz von 8,6 Millionen Euro. Vor 15 Jahren seien es weniger als 1,7 Millionen Euro gewesen.