NL / Lebensende: 10.000 Niederländer haben mit dem Leben „abgeschlossen“
IEF, 27.02.2020 – Zu dem Ergebnis kommt eine vom Gesundheitsministerium in Auftrag gegebene Studie, die den Todeswunsch bei über 55-Jährigen untersuchte.
Die Ergebnisse der Studie wurden dem Gesundheitsministerium am 30. Januar 2020 in einem Bericht präsentiert. Bei der von Forschern der Universität für Humanistik und des medizinischen Universitätszentrums Utrecht durchgeführten Untersuchung nahmen mehr als 21.000 ältere Menschen Teil, wurden über 200 abgelehnte Sterbehilfeanträge analysiert und 1.600 Allgemeinmediziner befragt.
Die Entzauberung des Bildes vom autonomen Sterbewilligen
Die Forscher kamen im Rahmen der Studie zum Ergebnis, dass mehr als 10.000 der über 55-jährigen Niederländer ohne an einer schweren Erkrankung zu leiden, ihr Leben beenden wollen. Auf der Website der Universität für Humanistik ist zu lesen, dass die Ausprägungen des Todeswunsches jedoch sehr unterschiedlich seien und stark von der Situation und den Umständen in denen sich jemand befindet, abhängen würden. Für ein Drittel sei ein „schöner Ort zum Leben“ bereits Grund genug um nicht sterben zu wollen.
Überraschend dabei sei auch, dass etwa die Hälfte der Lebensmüden zwischen 55 und 65 Jahre alt ist. Laut der Studienleiterin Els van Wijngaarden sei der Todeswunsch durchaus veränderlich und könne im Laufe der Jahre, also auch im Alter, abnehmen oder gar verschwinden. Zum Teil sei der Wunsch auch von der Jahreszeit abhängig. So berichtet die Süddeutsche Zeitung, dass sich einer der Befragten eine Pille ausgemalt haben soll, mit der er sich nur den Winter über umbringen könnte.
Für ein weiteres Aha-Erlebnis sorge die Erkenntnis, dass ein relativ großer Teil der Menschen, die einen Todeswunsch äußern, ein niedriges Bildungsniveau (44%) aufweist oder aus niedrigen sozialen Schichten (55%) stammt. Zwei Drittel der Sterbewilligen seien Frauen.
Für Susanne Kummer, Geschäftsführerin des Instituts für medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE) würde vor dem Hintergrund dieser Zahlen das „Bild vom autonomen, hochgebildeten und finanziell abgesicherten Menschen, der den Tod in einem freien Akt der Selbstbestimmung wählt“ in sich zusammenfallen. Die Ethikerin plädiert daher für ein Abrücken vom abstrakten Autonomiebegriff beim Menschen. „Jeder von uns ist immer schon in ein konkretes Umfeld, in Familie und Gesellschaft eingebettet. Hier liegen die Ressourcen, um solidarisch der Schutzbedürftigkeit und den Nöten älterer oder kranker Menschen gerecht zu werden. Tötung ist die falsche Antwort auf Hilfsbedürftigkeit,“ gibt Kummer gegenüber kathpress.at zu bedenken.
Eine wichtige Einsicht liefert die Studie auch im Hinblick auf Faktoren, die den Sterbewunsch verstärken können. Hier sollen 56 Prozent der Befragten Einsamkeit, 42 Prozent das Gefühl, anderen zur Last zu fallen und 36 Prozent Geldmangel als Grund für ihren Todeswunsch angegeben haben. Eine entgegengesetzte Tendenz sei hingegen dort zu beobachten, wo sich Umstände wie Allgemeinzustand, Einsamkeit oder Geldsorgen bessern würden.
Diese Aussagen veranlassten den niederländischen Gesundheitsminister Hugo de Jonge in einer ersten Reaktion auf die Studie Gesellschaft und Politik in Verantwortung zu nehmen. „Wir müssen alles tun, damit diese Menschen wieder den Sinn des und ihres Lebens finden“, so de Jonge.
Der Dammbruch führt in Richtung „Sterbehilfe für alle“
Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, lässt sich am Beispiel der Niederlande sehr gut aufzeigen, wie ausgehend von einer restriktiven „Sterbehilfe“-Regelung, diese allmählich auf immer weitere Personengruppen ausgedehnt wird. Sei assistierter Suizid und Tötung auf Verlangen anfangs nur terminal Kranken zugänglich gewesen, könnten heute bereits chronisch und psychisch Kranke, Demente und in einigen Fällen auch Kinder „Sterbehilfe“ erhalten. Damit sei dieser Prozess aber noch nicht abgeschlossen. Seit einigen Jahren bereits versucht die linksliberale, niederländische Partei D66 „Sterbehilfe“ auch für lebensmüde, jedoch gesunde ältere Menschen, die ihr Leben für „abgeschlossen“ oder „vollendet“ halten, zu öffnen. (Das IEF hat berichtet). Ein entsprechendes Vorhaben habe die Partei auch 2017 in den Koalitionsvertrag eintragen lassen.
Ob die D66 nach dem Bekanntwerden der Studienergebnisse nun weiterhin die Mehrheit des Parlaments hinter ihrer Gesetzesinitiative wähnen kann, sei fraglich. Mehrere Politiker sollen angesichts der Studienergebnisse ein Überdenken der bisherigen Annahmen gefordert haben. Doch die D66 gebe sich noch nicht geschlagen. Demnächst wolle man einen überarbeiteten Gesetzesvorschlag präsentieren, in dem die Ergebnisse der Studie bereits berücksichtigt sein sollen. (AH)